Hier ist eine Sache, die mich immer wieder beschäftigt:

Vor etlichen Jahren stand ich vor einem Dilemma: Entweder eine Operation, die mir wahrscheinlich meine Potenz nehmen, mich dafür aber sicher vor dem Krebstod bewahren würde (es ging um meine Blase). Oder aber eine sogenannte "konservative", eine bewahrende Immun-Therapie, die mir zwar meine Potenz erhalten, mich aber dem etwa 50-prozentigen Risiko aussetzen würde, innerhalb der nächsten fünf Jahre doch an Krebs zu sterben. Oder, genauer gesagt, elend zugrunde zu gehen: Am Ende steht ja meist ein verzweifelter, monatelanger und dann doch vergeblicher Abwehrkampf.

Wofür sollte ich mich entscheiden? Recherchen im Internet, Gespräche mit Ärzten und Betroffenen: nichts brachte Klarheit.

Dann wachte ich eines Nachts um 3 Uhr auf. Ich wusste in erstaunlicher, verblüffender, geradezu diamantener Klarheit, was zu tun war: Ich würde den riskanten Weg gehen. Also Immun-Therapie und Potenzerhalt. Kein Zweifel mehr. Keine Sorge mehr. Nur noch Klarheit. Entschiedenheit. Sicherheit. Eine Sicherheit übrigens, die nicht auf rationalen Gründen beruhte und von der ich deshalb niemand anderen hätte überzeugen können. Sie war einfach da.

Das ist jetzt 13 Jahre her. Mit anderen Worten: Es war die richtige Entscheidung.

Dieser Moment der plötzlichen Klarheit, die in etwas Tieferem als der Ratio begründet ist - der interessiert mich.

Freunde berichten mir, dass sie im Lauf ihres Lebens ähnliche Erfahrungen gemacht haben.

Vorhin war wieder alles da - unvermittelt, vollkommen überraschend. Innerlich war ich ganz woanders gewesen, beim Schreiben meines jetzigen Buches. Doch jetzt war ich wieder auf dem Dach oben, das israelische Mädchen neben mir, drumerhum die nächtliche Stadt: Hochsommer in New York, Hundstage.

Wir hatten aus meiner Wohnung, die im Stockwerk drunter lag, eine Matratze hochgeschleppt, damit wir nicht auf der dreckigen Dachpappe liegen mussten.

Es ist ja so: Deine Einsamkeit spürst du mitunter dann am stärksten, wenn du sie eigentlich gar nicht spüren solltest. Auf einer Party, zum Beispiel. Oder eben, wenn du aus nächster Nähe in das Gesicht eines anderen Menschen schaust, eure Körper nackt und schwitzend aneinander.

Sicher hatte das auch mit dem vielen Kiffen zu tun und mit der allnächtlichen Schlaflosigkeit. Auch mit dem furchtbaren Versagen auf der Schauspielschule, jenen Wochenend-Kursen, die mir meine Unbegabtheit, meine vollkommene Ungeeignetheit für den Beruf vor Augen führten.

Aber darunter war noch etwas anderes, eine Art Raunen, das im Lauf der Jahre stetig eindringlicher geworden war, eine Konsequenz nämlich meiner ganz spezifischen Persönlichkeit, ein Urteil, das schon sehr früh über mich gesprochen worden war und dessen Richtigkeit ich nicht mehr leugnen konnte: Etwas an mir war grundlegend falsch, passte nicht, stand quer zur Welt.

Ein paar Nächte später rannte ich - getrieben von einer namenlosen Angst - durch die Strassen. An den roten Ampeln sprang ich auf der Stelle hoch und nieder. Ich war mir sicher: Wenn ich stehen bleibe, ist es um mich geschehen.

Drogeninduzierte Dissoziation, würde ich heute sagen.

Mein Glück war, dass mich eine Freundin sah und zu sich nahm. Eine Französin, etwas älter als ich, die sich viel auf ihre Lebensklugheit zugute hielt. Sie erklärte mir in jener Nacht genau, wie man es als Frau anstellen müsse, die amerikanischen Einwanderungsbehörden zu überlisten:

"Heiraten langt nicht mehr. Die wissen auch, dass die East Village voller Schwuler ist, die mit dir für 1000 Dollar zum Standesamt gehen. Auf die Details kommt es an, sie fragen dich nach den Details. Daran scheitern dann viele. Zum Beispiel: Wie sieht die Zahnbürste deines Ehemannes aus. Im Zimmer nebenan hockt dein "Ehemann", und den fragen sie das Gleiche. Und schon haben sie dich."

Mit derlei ablenkendem Gerede brachte sie mich durch die Nacht. Jenem Sommer hatte ich es übrigens zu verdanken, dass ich später nicht zur Bundeswehr musste. Ich musste mir nicht - wie andere - erst zusammenlesen, wie sich ein paranoider Wahn anfühlt. Ich konnte aus eigener Erfahrung schöpfen.

Und das israelische Mädchen? Sie war, bevor sie nach New York kam, aktive Soldatin gewesen. Als wir zusammen "Apocalpyse Now" sahen, stand sie bei einer Kampf-Szene plötzlich auf und rannte aus dem Kino: zu nah an dem, was sie ein Jahr zuvor tatsächlich erlebt hatte. Wir standen auf der Strasse, rauchten eine Zigarette. Ein paar Male trafen wir uns noch, dann lernte ich meine erste Frau kennen, und wir sahen uns nicht wieder.

Und noch etwas: Meine Erfahrung ist, dass solche Zustände unmöglich anderen Menschen zu vermitteln sind, die dergleichen selber noch nicht erlebt haben. Die Angst vor dem Verrücktwerden ist zugleich das Verrücktwerden - wie soll man das mit Worten begreiflich machen?

1.

Vor einiger Zeit besuchten wir ein befreundetes Ehepaar, das in den Bergen ausserhalb Madrids lebt. Sie bewohnen dort ein Haus, das ihnen ein Mäzen - unsere Freunde sind beide Künstler - zur Verfügung gestellt hat.

Auf dem Rückweg mussten wir mitten in den Bergen umsteigen. Aber der Anschlussbus kam lange nicht: An der Haltestelle sammelten sich immer mehr Menschen, die ebenfalls nach Madrid wollten. Sie standen vereinzelt in der Kälte, die Schultern hochzogen, die Jacken zugeknöpft bis oben.

Ich musste an die Jahre denken, in denen ich immer wieder zu einer Gruppentherapie ins Voralpenland gefahren war, zwischen meinen 30ten und meinem 40ten Geburtstag. Für zwei Wochen lebte man auf engem Raum in einem alten Gasthaus zusammen. Wenn man vor die Tür trat, sah man die Berge in der Ferne, mit ihren strengen Kontrasten und der abrupten Art, den Lauf der Landschaft zu unterbrechen.

Wir waren in der Regel zehn Teilnehmer, meist mehr Frauen als Männer. Der Komfort entsprach dem einer Jugendherberge. Gemeinschaftsbäder- und Toiletten. Eine Küche, in der wir selber kochten. Ein Essraum. Der Seminarraum schliesslich, in dem wir den Grossteil des Tages verbrachten.

Die mittleren Alters überwogen, aber es gab immer wieder auch Zwanzigjährige. Ich erinnere mich an einen 80jährigen.

Die meisten waren Akademiker, angehende oder schon lange berufstätige, dazu immer wieder Krankenschwestern, Pfleger, Physiotherapeuten. Auffallend viele Ärzte.

All diesen Kursen war gemein, dass nach ein, spätestens zwei Tagen die Gesichter der Teilnehmer wie verjüngt aussahen - trotz mitunter rot geweinter Augen oder stoppeliger, weil inzwischen unrasierter Wangen. Es war, als hätten wir unsere Masken abgeworfen oder als hätten wir uns gehäutet. Falten hatten sich geglättet. Rücken sich gestreckt. Schritte waren energischer. Augen, vorher halb verborgen hinter schweren Lidern, schienen plötzlich doppelt so groß.

Was war geschehen?

Natürlich hatten die Übungen ihren An­teil daran.

Ebenso wichtig aber waren die Gesprächsrunden, die einmal am Tag stattfanden. Einen Zwang gab es dabei nicht. Wer stumm bleiben wollte, blieb es,

Doch das kam selten vor. Wir alle hatten viel Geld für den Kurs bezahlt und zum Teil lange Anfahrten in Kauf genommen. Wir wollten das meiste aus unserer Zeit hier machen.

Das meiste machte man dann daraus, wenn man zum Beispiel in der täglichen Runde möglichst offen war. Der Therapeut stellte kurze Fragen, manchmal streute auch jemand der anderen Beobachtungen oder Bemerkungen ein, aber in der Regel hatte man die Aufmerk­samkeit ganz für sich alleine - eine Minute oder auch eine Stunde, wie es eben notwendig war.

Natürlich war es schwierig, sich vor so vielen fremden Menschen zu öffnen. Einerseits trat aber nach einigen Tagen ein Gewöhnungseffekt ein - die Fremden wurden weniger fremd. Und andererseits: Alle machten es ja. Alle legten sich ja offen. Man begriff sehr schnell: Den anderen geht es auch nicht besser als einem selber. Wir sitzen alle im selben Boot.

Das hatte etwas Erleichterndes. Und das hatte auch etwas Ernüchterndes.

Ernüchternd, weil es einem die Einzigartigkeit nahm. So sehr wir alle unter unseren Depressionen, beruflichen Misserfolgen, unseren Süchten und Selbst­mordfantasien, unseren gescheiterten Liebesbeziehungen, unseren Ängsten und Zwangsvorstellungen leiden - wir bilden uns alle gerne ein, dass sie uns zugleich einzigartig machen.

Nur wir leiden auf diese ganz besondere und ganz be­sonders schmerzhafte Weise.

Zu erfahren, dass dem nicht so ist, sondern dass - ganz im Gegenteil - unsere seelischen Verwerfungen etwas recht Gewöhnliches, im ursprünglichen Sinne Ordinäres haben, holt uns wieder auf den Erdboden zurück. Wir sind eben nicht die Hauptdarsteller in einer welthistorischen Tragödie, wie wir uns selber gerne glauben machen. Sondern wir sind bestenfalls Statisten. Einer von Millionen, von Milliarden sogar.

Erleichterung aber empfinden wir auch deshalb, weil wir uns - trotz unserer einge­bildeten Einzigartigkeit - in Vielem für unser selber schämen. Wir alle wollen makellos sein, doch in Wahrheit sind wir voller Beulen, Schrammen, dunkler Flecken, dunkler Zonen. Zumindest empfinden wir uns selber so. Sich vor anderen dazu zu bekennen, zu dem mangelhaften Selbst, das man in den eigenen Augen ist, hat etwas Befreiendes, etwas Erleichterndes. Und diese Erleichterung sieht man den Teilnehmern an - ihren Gesichtern, ihren Körpern. Man hört es an ihren Stimmen.

2.

Man sagt, das Haus der Künste hat viele Räume. Damit will man sagen: Was der einen missfällt, gefällt dem anderen vielleicht umso besser. Platz ist für uns alle da.

Mein Zimmer dort ist ausstaffiert mit Büchern von Hermann Hesse, Ernst Jünger, Georg Büchner, Julien Green und Thomas Mann dazu von Goethe, Bobrowski, Brecht, Ingeborg Bachmann, Droste Hülshoff - Autoren und Autorinnen, die mir in unterschiedlichen Phasen meines Lebens viel bedeutet haben.

Der stärkste Text, den ich in den vergangen Jahren gelesen habe, stammt von Wolfgang Herrndorf. Er heisst "Arbeit und Struktur" und dokumentiert in Tagebuchform die letzten Monate des Schriftstellers, der sich schliesslich, nach langem Kampf gegen einen Gehirntumor, das Leben genommen hat.

So deprimierend dieses Tagebuch natürlich ist, so er­mutigend, ja, kraftspendend ist es auch. In der rückhaltlosen Ehrlichkeit, mit der Herrndorf seine hoffnungs­lose Lage beschreibt, liegt eine Größe, die das Schreckliche er­träglich macht. Wenn uns nichts bleibt, so bleibt uns doch am Ende die Würde, dieses Nichts mit klaren Worten zu be­nennen.

3.

Seitdem ich mit fünf oder sechs die Comics meines älteren Bruders flüsternd entziffert habe, bin ich ein Lesender; will sagen, dass Bücher, Texte eine zentrale Rolle in meinem Leben spielen. Der Geschmack hat sich natürlich im Lauf der Jahre verändert, und damit meine ich nicht, dass ich keine Comics mehr mag. Sondern damit meine ich vor allem, dass ich heute nicht mehr lese, um von der Welt weggeführt zu werden - sondern ich lese, um zu ihr hingeführt zu werden. Wenn ich mich ablenken will, schaue ich Filme oder Serien.

4.

Das Wort, das ins Mark trifft. Der Satz, der den Schleier wegreisst. Die Sprache, die befreit.


Aber warum wollte ich mich aus dem Zug stürzen (siehe Post vom 10.12.22)? Weil mir schlagartig klar geworden war, dass ich dazu verdammt war, ein unglückliches Leben zu führen. Wie gesagt - nichts von dem, was ich mir erhofft hatte, hatte sich erfüllt. Keine Erlösung. Keine Befreiung. Alles umsonst.

Ich blieb dennoch am Theater, wenigstens eine Zeit lang, und das war nicht verkehrt. Denn dort warteten einige wertvolle Lektionen auf mich.

Eine dieser Lektionen hatte mit einem Schauspieler zu tun, der rund 30 Jahre älter als ich war.

Der Ruhm war spät zu ihm gekommen. Er hatte sich viele Jahre mit kleinen Nebenrollen begnügen müssen, war jetzt aber einer der Stars des Theaters - und damit einer der Stars des deutschsprachigen Theaters überhaupt.

Er war kein schöner Mann. Er war einmal sehr übergewichtig gewesen, und deshalb war seine Haut überdehnt - sie hing ihm in Falten von den Wangen herab. Seine Ausstrahlung war die eines kalten und hochmütigen Menschen, weshalb er oft Bösewichter spielte. Um die Augen hatte er etwas Lauerndes - als warte er nur darauf, bei seinem Gegenüber eine Schwäche zu entdecken.

Allerdings konnte seine Arroganz plötzlich in Unterwürfigkeit umschlagen, in eine Beflissenheit dem anderen zu gefallen, die etwas Anrührendes hatte. Ich erlebte das selber mehrfach mit ihm und war jedesmal so verblüfft, dass es mir für einen Moment buchstäblich die Sprache verschlug. Übrigens glänzte er auch immer wieder in komischen Rollen, in denen er genau dieses Unterwürfige der Lächerlichkeit preisgab.

Wenn ich ihm über den Weg lief - auf der Probe, in der Kantine - war eine unerklärliche Spannung in mir. Ich konnte ihm kaum ins Gesicht sehen und wich ihm deshalb gewöhnlich aus.

Privat begegnete ich ihm in der Regel nicht, da die Schauspieler, mit denen ich befreundet war, in meinem eigenen Alter waren - also zwischen zwanzig und dreissig.

Zu diesen Freunden gehörte auch eine sehr schöne Schauspielerin, die aus Norddeutschland stammte. Sie war sportlich, hatte hellblondes Haar und tiefgrüne Augen. Wir verbrachten viel Zeit miteinander, hatten aber keine sexuelle Beziehung. Enge Freunde - das war alles.

Eines Tages vertraute sie mir an, dass sie ein Verhältnis mit einem sehr viel älteren Kollegen angefangen hatte, von dem niemand wissen durfte, da der betreffende Mann verheiratet sei. Es handelte sich um eben jenen Schauspieler.

In den folgenden Wochen erfuhr ich von ihr immer mehr Details dieser - nicht einfachen - Beziehung. Zum Beispiel, dass ihr neuer Freund keinen Geschlechtsverkehr haben wollte. Nicht, weil er ihn aus medizinischen oder psychischen Gründen nicht haben konnte, sondern weil er ihn tatsächlich nicht wollte, und zwar mit niemandem; er wollte anderen Menschen körperlich nicht nah kommen.

Auf der Bühne musste er, wenn die Rolle das verlangte, sich umarmen lassen oder jemandem einen Kuss auf die Wange drücken. Aber im Privatleben verbitte er sich das; menschliche Berührung stosse ihn ab.

Alles, was an Sex mit ihm möglich war und was sie auch miteinander praktizierten: Sie nahmen in gehörigem Abstand zueinander Platz und masturbierten voreinander. Meine Freundin empfand das als befremdlich und unbefriedigend.

Eines Abends sass ich mit eben jenem Schauspieler und drei oder vier anderen Personen in einem Restaurant. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits am Theater gekündigt. Ich hatte den Kopf voll mit den Bildern einer langen, möglichst jahrelangen Reise, zu der ich bald aufbrechen wollte.

Wie auch immer: Meine Scheu dem Schauspieler gegenüber, die ich zunächst gleich wieder empfunden hatte, verlor sich im Lauf des Abends. Schliesslich schlug sie sogar in eine prickelnde Angriffslust um. Ihm in die Augen zu sehen bereitete mir keine Schwierigkeiten mehr; im Gegenteil, ich suchte seinen Blick über den Tisch hinweg und mischte mich schliesslich in ein Gespräch ein, das er mit seinem Tischnachbarn führte, einem Regisseur oder Dramaturgen.

Was das Thema der Unterhaltung war - daran kann ich mich nicht erinnern. Sehr wohl aber an ein rauschhaftes Gefühl von intellektueller Überlegenheit, in das ich mich immer weiter hineinredete. Er verleitete mich dazu, das Gespräch wiederholt in Richtung Sex zu lenken.

Ich ahnte natürlich, dass dem Schauspieler gerade dieses Thema unangenehm war. Von seinen zunehmend kühleren Erwiderungen liess ich mich nicht abschrecken. Es kam, wie es kommen musste: Der Schauspieler wurde ungehalten, dann wütend. Er nahm das Du zurück, wurde schliesslich sogar beleidigend. Wir gingen auseinander.

Was hatte mich da nur geritten? Warum hatte ich mich da wie ein Arschloch benommen? Erst Monate später begriff ich es, da war ich schon unterwegs auf meiner Reise.

Ich hatte eine Art Abstossung vorgenommen - ohne, dass mir das im entsprechenden Moment bewusst gewesen wäre. Etwas in meiner psychologischen Grundstruktur, das ich selber nicht wahrnehmen wollte, ähnelte etwas in der psychologischen Grundstruktur des Schauspielers - was mir zutiefst unangenehm war. Ich wollte unter keinen Umständen so sein oder so werden wie er: emotional abgeschlossen von der Welt; eingemauert in meine eigene Angst; buchstäblich unberührbar. Das Bild der beiden, wie sie - weit entfernt voneinander - masturbierend sich gegenüber sassen, war für mich ein Bild aus der Hölle.

So ist es ja: Wir mögen Menschen, wenn sie uns ähneln. Aber mitunter mögen wir sie gerade deshalb nicht.

Mit 25 wurde ich für eine Hauptrolle an die Wiener Burg engagiert. Das war das Grösste überhaupt, was einem Schauspieler, ob jung oder alt passieren konnte: eine Hauptrolle an Europas berühmtesten Theater.

Nach der Vertragsunterzeichnung, auf dem Weg zurück nach hause in Deutschland, wollte ich mich aus dem Zug stürzen.

Ich war jahrelang der Überzeugung gewesen, dass, wenn mir sowas gelingen würde, eine Hauptrolle an einem grossen Theater zum Beispiel — - dass dann die Hölle in meinem Kopf endlich verstummen würde. Ausgelöscht. Weg.

Wie ich aber in mich hineinhörte, während ich da im Zug zurück sass, musste ich feststellen: Das war leider nicht der Fall. Unter der Euphorie, die ich natürlich fühlte, war ich immer noch derselbe. Derselbe Schrecken. Dasselbe Chaos. Die selben, einander jagenden, einander widersprechenden Ängste. Nichts hatte sich geändert - gar nichts.

Ich vermute übrigens, dass es meiner Schwester ähnlich ging. Nur kam ihr grosser Erfolg als Filmemacherin nicht mit 25, sondern mit 36. Entsprechend mehr Jahre hatte sie Zeit gehabt zu hoffen, sich hineinzusteigern, freudig zu erwarten; entsprechend gross fiel die Enttäuschung aus. Sie brachte sich tatsächlich um.

Mein Interesse an der Schauspielerei erlosch. Was jetzt? Wie ging es mit meinem Leben weiter? Alles, worauf ich über so lange Zeit hingearbeitet hatte, war praktisch über Nacht weggebrochen. Ich ging auf eine Rad-Reise. Auf den langen, einsamen Strecken, die ich in Asien unterwegs war, wurde mir immer klarer, dass es für mich in meinem Leben eigentlich nur ein Ziel geben konnte: Ich musste nach innen gehen und herausfinden, wer ich war.

Ich stamme aus einer Familie, die man mit gutem Gewissen dysfunktional nennen kann: Kriminalität, psychische Erkrankungen, krankhafter Geiz, blutige Gewalt, religiöse Bigotterie, Selbstmord. Das spielte sich zwischen zwei Erwachsenen und ihren acht Kindern ab. Meine Eltern waren beide das, was man heute “hochbegabt” nennt. Das änderte nichts daran, dass sie menschlich und charakterlich schwer beschädigt waren, schon als Kinder vermutlich, lange jedenfalls, bevor sie selber Kinder gezeugt haben. Ich habe oft gedacht: Besser, sie hätten's gelassen.

Aber ich möchte gleich hinzufügen: Das ganze Elend war - am Ende - nicht wirklich ihre Schuld. Wenn man ernsthaft über diese Sachen nachdenkt, dann kommt man schnell dahinter: Entweder sind wir alle Opfer. Oder wir sind alle Täter. Was nämlich nicht geht, ist: Die eine Generation zu der der Opfer zu erklären. Und die andere zu der der Täter. Die Regeln gelten für alle gleich. Am besten, man lässt die ganze Opfer-Täter-Frage hinter sich. Sie führt nicht weiter. Jedenfalls nicht in den Zusammenhängen, um die es hier geht.

Um welche Zusammenhänge geht es hier? Was ging mir da auf den langen Fahrten in Asien durch den Kopf?
Erstens: Kein wie auch immer gearteter Erfolg würde das Zeug haben, mich zu erlösen. Das konnte ich also stecken.
Zweitens: Wenn ich leben wollte, musste ich da runter in mich selber, in mein Inneres. Hinschauen. Dem Schrecken ins Gesicht sehen. Den Dingen auf den Grund kommen.

Darüber schreibe ich. Davon handelt mein erstes Buch: rauschhaftes Unterwegssein. Davon handelt mein zweites Buch: lange, ziellose Wanderungen durch die Nacht auf der Suche danach, eine neue Haltung zum Tod - und damit zum Leben - zu finden. Davon handelt das Buch, an dem ich jetzt schreibe: Sexualität, und zugleich die Loslösung vom gewalttätigen Vater.

Ich bin, wenn man so will, aus Not und dann aus leidenschaftlichem Interesse heraus Experte meiner selbst geworden. Insofern wir uns alle am Ende ähneln, kann das, was ich im Lauf der Jahre über mich selber rausgefunden habe, auch für andere von Interesse sein.

Eine Sache ist mir noch wichtig: Mir geht es nicht alleine um Beschreibung - das haben andere schon getan, mitunter nobelpreiswürdig — mir geht es um Wandlung, um Heilung.

Ich habe eine Freundin, die ist schön, gebildet, hat einen interessanten Beruf - und sie ist furchtbar einsam. Sie sehnt sich nach einem Partner. Fast immer geht es nur um dieses eine Thema, wenn wir miteinander telefonieren. Ich habe schon lange aufgegeben, ihr da zu helfen oder zu raten. Das einzige und das beste, was ich tun kann, ist ihr zuzuhören. Sie ist das, was man "beratungsresistent" nennt.

Wenn man sie sieht - diese schöne und interessante Frau - ahnt man, warum sie einsam ist: Auch im Ruhezustand drückt ihr Gesicht eine kalte Wut aus, eine Art eingefrorenen Zorn. Die Augen sind geweitet, die Lippen fest aufeinander, die Haut glatt von einer Anspannung, der sich meine Freundin selber gar nicht bewusst ist. Wer möchte sich auf einen solchen Menschen länger einlassen? Mit ihm sein Leben verbringen? Entsprechend haben ihre Beziehungen immer nur kurz gehalten, jeweils wenige Jahre.

Aber warum ist sie immer so zornig? Wo kommt ihre kalte Wut her? Man sieht sie schon auf den Kinderbildern, auf den Familienfotos. Da steht oder sitzt sie mit ihren Eltern und Geschwistern. Während alle pflichtschuldig in die Kamera lächeln, ist das Gesicht meiner Freundin ernst. Ein ausgesprochen hübsches Mädchen mit langen, braunen Haaren - und trotzig vorgeschobenem Kinn, heruntergezogenen Mundwinkeln.

Wo auch immer ihr Zorn herkommt, wenn man sich im Gespräch nur in seine Nähe bewegt, also das Thema auch nur streift, wird sie sofort - wütend. Sie hört dann nicht: Dieser Mann will mir helfen. Sondern sie hört nur: Ich soll anders sein. Und anders sein zu müssen, dieser Gedanke erregt sofort - natürlich - ihren Zorn.

Warum komme ausgerechnet ich so gut mit ihr zurecht? Weil ich - aus irgendeinem Grund - durch ihren Zorn durchschauen kann. Ich sehe die Not, die dahinter versteckt ist, auch wenn ich deren Gründe nicht kenne. Es schmerzt mich, dass meine Freundin aus ihrem ganz persönlichen Gefängnis wahrscheinlich nie herausfinden wird.

Vor rund 3,5 Milliarden Jahren entstanden die ersten einzelligen Lebewesen auf der Erde. Es dauerte anderthalb Milliarden Jahre, bis sich aus ihnen die ersten Mehrzeller entwickelten. Anderthalb Milliarden Jahre! Kaum aber gab es sie, explodierte das Leben auf unserem Planeten.

Die Prärie (1996)

„Du Schweinehund! Du Schwein!“ Heinrich wusste, dass diese Schreie ihm galten. Er drehte sich um, gerade rechtzeitig, um noch das verzerrte Gesicht seines Bruders auf sich zurasen zu sehen, die aufgerissenen, hasserfüllten Augen, die gebleckten Zähne. Im nächsten Moment lag er im Staub, sein Bruder kniete auf ihm, auf seinen Oberarmen, und spuckte ihm ins Gesicht, schlug ihm mit beiden Fäusten auf die Augen. Heinrich warf seinen Kopf hin und her, er bäumte sich auf, um seinen Bruder abzuwerfen, der fest wie ein Reiter auf ihm sass, er versuchte vergeblich, seine Arme zu befreien. Doch Felix, obwohl ein Jahr jünger, war stärker und vor allem gewandter als er; er war der Liebling des gesamten Treks, und dieser Umstand verlieh seinen Fäusten eine besondere Schlagkraft, die Schlagkraft des Gerechten und Geliebten.

„Gib’s zu!“, brüllte er zwischen den Schlägen, „gib's zu!“

Heinrich gelang es, den linken Arm zu befreien, er erwischte Felix am Haar und riss ihn, laut aufschreiend, von sich herunter. Nun war er am Zug! Doch ehe er auf die Knie kommen konnte, erhielt er einen harten Stoss in den Rücken, der ihn bäuchlings zurück in den Staub warf. Eine hohe Männerstimme, es war die Stimme seines Onkels Josef, schrie voller Verachtung:

„Dir werde ich es zeigen, andere an den Haaren zu reissen, du Mädchen!“

Heinrich, der regungslos liegenblieb, das Gesicht halb im Bodenstaub vergraben, hörte seinen Bruder stöhnend aufstehen. Aus dem Winkel des einen Auges sah er, wie der Onkel einen Arm um Felix legte und mit ihm zwischen zwei Planwagen verschwand.

Noch mehr als das traf ihn etwas anderes. In dem verschwommenen Ausschnitt, den sein mit Staub verklebtes Auge ihm gewährte, erkannte er zu seinem Entsetzen, dass das ganze Lager zusammengelaufen war. Die Schreie hatten die anderen wohl angelockt, und nun standen sie kopfschüttelnd da. Sie hatten alles mit angesehen; sie hatten gesehen, wie er seinen allseits beliebten Bruder an den Haaren gezogen hatte, „wie ein Mädchen“, und bald würden sie auch den Grund für den gerechten Zorn seines Bruders wissen, dass er ihm nämlich das kostbare Klappmesser gestohlen hatte; und ohne Zweifel würde er jetzt noch tiefer in der allgemeinen Achtung sinken. Man nannte ihn schon, wegen ein paar früherer Vorkommnisse, einen Lügner, jetzt würde man ihn auch noch einen Dieb heissen.

Heinrich richtete sich blinzelnd auf. Die Zeugen seiner Schande waren zurück an ihre jeweilige Arbeit gegangen, und nur ein paar kleine Kinder standen noch da und starrten ihn mit aufgerissenen Augen an.

Er stand er auf und überquerte den runden Platz, den die zusammengeschobenen Planwagen bildeten. Am Wagen seiner Familie blieb er horchend stehen. Als er sicher sein konnte, dass niemand zu Hause war, stieg er ein. Drinnen war es dunkel, doch hätte er sich auch mit verbundenen Augen zurechtgefunden. Aus der Holzkiste, in der die Mutter Saatgut und Bibel aufbewahrte, zog er ein Leinensäckchen und entnahm ihm das gestohlene Messer. Er klappte die Klinge auf, setzte die Spitze an, wo er sein Herz vermutete; dann legte er das Messer, wie es war, auf die Holzkiste, horchte, und glitt zum offenen Ende des Wagens. Er liess sich hinab auf den Erdboden, horchte abermals, und schoss darauf, so schnell ihn seine dreizehnjährigen Beine trugen, zum Rand der Senke, in der die Planwagen aufgestellt waren. Er erreichte der Böschung, kletterte sie auf allen Vieren hoch, wobei er sich an Sträuchern festhielt und die Füsse hart in den Boden stiess, und ein paar Herzschläge später war er oben angekommen, er spürte das zuallererst an dem Wind, der ihm mit überraschender Kraft in das erhitzte Gesicht blies. Die Prärie lag offen vor ihm, mit ihren gelben, im Wind wogenden Hügeln und dem weiten Himmel. Da erreichte ihn der wütende Schrei des Postens, der irgendwo verborgen Wache hielt, und ohne sich umzudrehen, ohne einen Blick zurück auf die Planwagen zu werfen, die dort unten im Nachmittagslicht standen – rannte er in das hüfthohe Präriegras hinaus und war einen Moment später verschwunden.

Er rannte und rannte, und als er dachte, die Lunge würde ihm zerreissen, rannte er immer noch weiter. Doch plötzlich liess er sich fallen. Er überschlug sich und kam keuchend auf dem Rücken zum Liegen. Er rührte sich nicht. Seine Augen waren auf den Himmel gerichtet, doch sahen sie nichts, so sehr pochte das Blut in ihnen. Aus allen Poren seines Körpers schoss der Schweiss heraus. Er schwemmte über Stirn und Oberlippe und weichte die Haut im Nacken auf, sodass das niedergebrochene Gras dort zu stechen begann. Seine Arme, ohne dass er es merkte, streckten sich und kehrten die nassen Handteller dem Himmel zu. Die Augen fielen ihm zu. Ein herrlicher Friede kehrte in ihn ein, strömte mit dem Blut bis in die letzte Faser seines Körpers, füllte jede Zelle aus, sodass sein Bewusstsein aus nichts mehr bestand als dem Herzschlag, der seinen Körper rhythmisch erbeben liess, dem Schweiss, dem Keuchen seines Atems, und jenen rätselhaften, hellrot gefärbten Schattenbildern, die die Sonne hervorruft, wenn sie durch geschlossene Lider auf die Netzhaut fällt.

Nach einer Ewigkeit öffnete Heinrich seine Augen und blickte in den hohen Himmel über sich. Links und rechts, zu seinen Füssen und zu seinem Kopf stand das Gras. Es ragte hoch über ihm auf, wie ein gelber Herbstwald, und ganz weit oben, wo die Stengel übergingen in lange, spitz zulaufende Blätter, wo die Farben unsicher wurden und die Welt im Licht verschwamm, war ein Zittern und Rascheln und Zischeln – dort oben spielte der Wind mit den Grasspitzen, die er mal in die eine, mal in die andere Richtung bog.

Hier unten jedoch, am Erdboden, stand die Luft still.

„Ich gehe nie mehr zurück“, dachte er, „nie mehr. Lieber sterbe ich.“

Er dachte an seinen toten Vater, an das zerfallene Bauernhaus, das sie zurückgelassen hatten; ein Gesicht tauchte in seiner Erinnerung auf, das Gesicht eines kleinen Jungen, der im Nachbarhaus gewohnt hatte, und ohne zu wissen warum, erfüllte ihn dieses Gesicht nun mit einer schmerzhaften Sehnsucht, dabei hatte er den Jungen doch kaum gekannt; dann fragte er sich lange, ob er damals, kurz vor ihrer Abreise, dem Pfarrer die zehn Vaterunser aufgesagt hatte, die er ihm versprochen hatte, oder ob es in der allgemeinen Erregung des Aufbruchs vergessen worden war, doch er konnte und konnte, sosehr er sich auch den Kopf zerbrach, keine eindeutige Antwort darauf finden, mal schien es ihm als habe er, ja, vor dem Pfarrer gestanden und ihm mit gefalteten Händen die Gebete dargebracht, dann wieder, als sei das gar nicht der Pfarrer, an den er sich erinnere, sondern irgendein bettelnder Bayer oder Österreicher, dem er in Bremerhaven ein Stück Brot gegeben hatte. Diese Ungewissheit ärgerte ihn so, dass er sich schliesslich auf die Seite warf, um alle Gedanken an die Sache abzuschütteln. Er bettete seinen Kopf in die Hände und blickte in den Gräserwald hinein, der sich dunkel und dichtstehend vor ihm erstreckte. Lichtsplitter huschten zwischen den Stengeln hin und her, und als sich seine Augen an den Halbschatten gewöhnt hatten, sah er auch Ameisen und schwarze, glänzende Käfer auf dem braunen Boden umherkriechen. Da fiel ihm das Messer wieder ein, und in einer Aufwallung von Scham und Schmerz schrie er:

„Nie mehr, nie mehr gehe ich dorthin zurück!“

Ja, er hatte seinem Bruder das Messer gestohlen! Ja, er war ein Dieb! Und – waren die anderen, die ihn immer verachtet, die ihn ausgeschlossen und sich gegen ihn verschworen hatten, waren die etwa keine Verbrecher? Erzählten die nicht täglich neue Lügen über ihn, um ihn schlechtzumachen?

Tränen schossen ihm in die Augen. Wo war der, der ihm Recht geschehen liesse? Wo war der, der ihn liebte? Er war alleine – alleine.

Er setzte er sich mit brennenden Augen auf und sagte laut:

„Ich gehe nicht mehr zurück.“

Er hatte alle Überzeugungskraft, derer er fähig war, in seine von Tränen noch brüchige Stimme gelegt, dennoch kroch sofort ein hässlicher Zweifel auf. Er schlug mit der Faust auf den Erdboden – vergebens. Ein Gewicht legte sich auf seine Schultern, es war das übliche Gewicht seiner Existenz, alle Kraft verliess ihn, er sackte zusammen und blickte nur noch dumpf vor sich hin. Hin und wieder schoss ein Bild durch ihn hindurch, dann sah er, wie er erhobenen Hauptes vor den gesamten Auswandererzug hintrat und verächtlich ausspuckte, oder wie seine Mutter, seine harte Mutter, über seiner Leiche zusammenbrach, die man eben aus dem Fluss gezogen hatte. Aber keines dieser Bilder hatte Kraft, es waren nicht einmal Wunschvorstellungen, sondern nur leere Gedankenspielereien, die kaum ein Gefühl in ihm wachriefen. Es half ja doch alles nichts – bald würde er aufstehen, diese Kuhle im Gras hier verlassen, und zurückkehren ins Lager. Was ihn dort erwartete, war so schrecklich, dass er jedem Gedanken daran auswich.

Das dringende Bedürfnis, seine Blase zu erleichtern, zwang ihn schliesslich zum Aufstehen. Wieder überraschte ihn die Heftigkeit des Windes. Er drehte ihm den Rücken zu und blickte dem Urinstrahl nach, der wie ein Sprühregen weit über die Gräser getragen wurde und sich glänzend in den Blättern verfing. Die Anhöhe, hinter der sich das Lager verbarg, befand sich ein gutes Stück nördlich von ihm; er würde es wohl knapp vor Sonnenuntergang zurückschaffen.

Als er den Kamm der Anhöhe erreichte, mit vor Angst klopfendem Herzen, und sich die Senke vor ihm öffnete – blieb er wie erstarrt stehen. Die Senke war leer. Kein Planwagen, kein Mensch – nur Gras, das am tiefsten Punkt der Senke ausdünnte und in einen schwarzsilbernen Tümpel überging.

Heinrich starrte den Schatten an, den die Anhöhe über die Senke warf und an dessen obersten Ende er sich selber, winzig klein, erkennen konnte; er drehte sich um, blickte in die Prärie hinaus, drehte sie wieder um. Er sank zu Boden und verbarg den Kopf in den Händen.

Zunächst glaubte er, dies also sei die Strafe, die die anderen sich für ihn ausgedacht hatten, nämlich weiterzuziehen und ihn hier alleine in der Wildnis zurückzulassen. Doch dann kam er zur Besinnung, und ihm wurde bewusst, dass er sich verirrt hatte.

Er sprang auf. Von seinem erhöhten Standpunkt aus konnte er viele Meilen weit sehen – und was er sah, erfüllte ihn mit Furcht. Nirgendwo in der Steppe waren Spuren des Treks zu entdecken, weder im Osten, wo sich bereits die Dämmerung über die Täler senkte, noch im Westen, dem abendlichen Horizont zu. Auf der Prärie, die auch von Tieren gänzlich verlassen schien, lag der rötliche Hauch der untergehenden Sonne, und der Wind, der am Nachmittag noch stetig geblasen hatte, huschte jetzt in dunklen, unruhigen Böen über das Gras.

Am Fuss der Anhöhe konnte Heinrich seine eigenen Spuren ausmachen, er rannte hinab und folgte ihnen, bis er im letzten Licht des Tages zu der Stelle gelangte, an der er den Nachmittag verbracht hatte. Dort entdeckte er, tief zu Boden gebeugt, etwas aufgewühlte Erde – und mit unendlicher Erleichterung folgte er dem, was er für seine Fährte vom Nachmittag hielt. Nichts, auch nicht die demütigendste Strafe, konnte sich mit dem Schrecken messen, den die leere Wildnis in ihm hervorrief. Doch sei es, dass er von vorne herein einer Täuschung erlegen war, sei es, dass er irgendwann von der ursprünglichen Fährte abgekommen und auf einen Wildwechsel geraten war – als er Stunden später an ein trockenes Flussbett kam, das im Sternenlicht wie mit weissem Mehl bestäubt schien, wusste er, dass er sich wieder verirrt hatte.

Vier Tage suchte Heinrich nach dem Auswandererzug. Er folgte allen Einflüsterungen seiner Hoffnung, die ihn kreuz und quer durch die Prärie trieben, mal planvoll und bedächtig, mal ihn vorwärtsjagend wie einen Irrsinnigen. Zweimal, an jeweils verschiedenen Orten, dachte er, seine Mutter oben auf einem Hügel zu sehen, wie sie nach ihm Ausschau halte; doch beide Male trog ihn ein tanzender Staubwirbel. Einen ganzen Vormittag lang sass er reglos auf dem Erdboden, unfähig, auch nur einen Finger zu rühren – da erschien die durchsichtige Gestalt seines Schutzengels vor ihm und wies auf einen entfernten Höhenzug. Heinrich rannte durch die Steppe; als er den Höhenzug erreicht hatte, brauchte er lange, bis er begriff, dass seine Augen ihm die Wahrheit sagten – dass auch hier niemand auf ihn wartete, niemand den Kopf überrascht nach ihm umdrehte. Entkräftet liess er sich zu Boden fallen und sank in einen traumlosen Schlaf. Er hatte während der letzten Tage kaum Wasser zu sich genommen, kaum geschlafen, und keinen Bissen gegessen; nun forderte der Körper sein Recht.

Mitten in der Nacht erwachte er. Er setzte sich auf. Er wusste nicht, wo er war. Alle Angst war von ihm gewichen und er fühlte sich leicht und leer. Mit weit geöffneten Augen blickte über die Prärie, die sich dunkel vor ihm ausbreitete und in der Ferne mit dem Himmel verschmolz, einem klaren, sommerlichen Sternenhimmel. Die Präriehunde kläfften; ein kühler und doch angenehmer Wind wehte um seine Stirn. Er begriff zum ersten Mal in seinem Leben, dass all dies auch ohne existierte, dass diese Welt, so rätselhaft vor seinen Augen ausgebreitet, in keiner Weise auf ihn angewiesen war; dass sie, die es schon immer gab, nach seinem Tod genauso fortbestehen würde, wie er sie jetzt sah.

Ein heller Morgen brach an. Noch im Aufwachen erkannte er, auf welche Weise er sich retten müsste, es lag alles klar und deutlich vor ihm. Von den Gesprächen der Erwachsenen wusste er, dass der Auswandererzug einer ganz bestimmten Route nach Westen folgte; sie führte durch die Prärie hindurch zu einem Felsenberg, der den Übergang zum Gebirge markierte. Dieser Felsenberg nun, so hatte er es oft gehört, besass eine eigentümliche, nicht zu übersehende Form, die schon vielen Zügen vor ihnen als Wegweiser gedient hatte: Er sah aus wie ein hoher Kirchturm, dessen Spitze allerdings mit einem runden Fels gekrönt war.

Heinrich stand auf. Am westlichen Horizont, blassrosa angestrahlt von der Morgensonne, zeichnete sich als dünne Linie das Gebirge ab. Wie viele Tagesmärsche war es noch entfernt? Drei? Sieben? Weit konnte es nicht mehr sein, und wenn er direkt darauf zuhielt, würde er früher oder später jenen kirchturmartigen Berg erblicken und unweit von ihm auch auf die Spuren seines Zuges stossen; ab da konnte seine Rettung nur noch eine Frage der Zeit sein.

Zwei Tage später öffnete sich ein Flusstal unter ihm, das sich wie ein gewaltiger Graben quer durch die Prärie zog. Das Gebirge war jetzt nicht mehr fern, schon konnte er einzelne Gipfel ausmachen. Er setzte sich auf einen Stein und ruhte aus. Es war später Vormittag. Sein Atem ging schnell, seine Beine zitterten. Eine flackernde Lustigkeit war seit dem Morgen in ihm gewesen, wenn er stolperte, hatte er kichern müssen, auch ein Vogelschwarm am Himmel hatte sein Lachen erregt – doch jetzt, wie er so da sass, seinem eigenen Atem zuhörte, wurde er sofort müde. Er stützte das Kinn in die Hände und blickte gleichgültig über die Landschaft, die sich unter ihm ausbreitete.

Der Fluss schlängelte sich in einer doppelten Kurve durch das sandige Schwemmland, auf dem hier und dort, gleich Inseln, kleine Gruppen von Sträuchern und Bäumen wuchsen. Jenseits des Flusses stieg das Gelände an, dort hatten frühere Hochwasser ihre dunklen Linien in den weichen Grund geschnitten, und dann kamen wieder die Hügel, und auf den Hügeln das Gras. Die Wolken standen sehr hoch am Himmel. Sie sahen aus wie flüchtig hingestrichen, und obgleich sie sich nicht zu bewegen schienen, verschwand immer wieder die Sonne für Minuten hinter ihnen; dann fiel ein Schatten über die Prärie, das Glitzern des Flusses erlosch, die Abhänge wurden glatt und finster.

Er schätzte den Weg ab, den er durch das Tal nehmen würde; dieser Blick, der zwischen zwei Lidschlägen die Gesamtheit einer Landschaft erfasste, ihre Hindernisse und verborgenen Passagen, war ihm zu zweiten Natur geworden. Rechts der glitzernden Doppelkurve weitete sich der Fluss. Aus dem flachen, ruhig dahinströmendem Wasser erhoben sich Sandbänke und Geröllinseln, dort würde er eine Furt finden. Mit einem Ruck machte er sich auf.

Nach einigen Schritten neigte sich das Gelände, er kam an eine Böschung, die steil nach unten fiel. Er liess sich auf die Knie nieder, krallte die Hände in den Boden, und schob rückwärts die Beine über den Rand. Seine nackten Füsse fanden schnell Halt, und Stückchen für Stückchen liess er sich hinab, die Wange gegen den kalten Lehm gepresst, dessen scharfen Geruch er mit jedem Atemzug in die Nase sog. Ein periodisches Zittern lief durch seinen Körper und liess die Zähne klappernd aufeinanderschlagen. Zu trinken fand er überall genug: den letzten Bissen allerdings hatte er vor einer Woche zu sich genommen, im Lager. Seitdem hungerte er.

Einmal trat sein Fuss ins Leere; da hing er Momente lang regungslos da, gehalten nur von seinen Händen.

Am Fuss der Böschung blieb er einfach stehen, so erschöpft war er. Ihm schwindelte. Er schlug sich durch Dornensträucher und Büsche und kam in einen Birkenhain, wo der Boden weich unter seinen Füssen nachgab. Er legte sich hin und schloss die Augen.

Die Sonne weckte ihn am frühen Nachmittag, sie schien direkt in sein Gesicht. Mit verquollenen Augen richtete er sich auf und starrte den zersplitterten Bildern hinterher, die ihm der Schlaf gebracht hatte. Seine Zunge war geschwollen, sein Kopf schmerzte; dieser Kopfschmerz war vor einiger Zeit an die Stelle des Hungers getreten. Auf allen Vieren kroch er zu einem Bach, der zwischen grauen Steinen den Birkenhain durchfloss, und saugte das kalte Wasser in sich hinein. Er drehte sich auf den Rücken und schaute in den Himmel hoch.

Über ihm rauschte der Wind in den Birken. Die Blätter glitzerten, als seien kleine Spiegel an ihnen befestigt, und durch die Luft trieben silberne Spinnenfäden, die ersten Vorboten des Herbstes. Das Licht glänzte auf den weissen Stämmen der Birken. Er hob eine Hand vor die Sonne, sodass er die Fingerknochen als dunkle Schatten im roten Fleisch sehen konnte. Noch dunkler zeichneten sich die winzigen Eiterschwären ab, von denen die Hände, wie auch Füsse und Arme, überzogen waren; diese Wunden hatte er sich vor zwei Tagen bei einem Sturz in einen dornenbewucherten Graben zugezogen. Ausserdem blutete er zwischen den Zehen, seine linke Wade schmerzte bei jedem Schritt, als bohre sich dort ein Nagel in sein Fleisch, und der ganze Rücken war wund, denn sein Hemd, zerrissen wie es war, schützte ihn nur schlecht vor der Sonne; doch all das bemerkte er kaum noch. Gestern früh aber war er weinend auf die Knie gesunken: da hatte er im Selbstgespräch den Mund zu weit geöffnet, dessen Lippen der Wind mit Schorf bezogen hatte, und sofort war ihm das Blut am Kinn hinabgelaufen.

Seine Gedanken wandten sich dem Fluss zu, der jenseits des Birkenhaines lag. Er würde einen Stock brauchen, um ihn sicher überqueren zu können; das Wasser würde kalt sein, und wenn die Kleider nachher nicht die Zeit hatten, in der Sonne zu trocknen, würde er nachts frieren müssen. Diese Überlegung schreckte ihn auf.

Der Fluss roch nach Sand und altem Treibholz. Er war sehr viel breiter, als Heinrich erwartet hatte. Eine Sandinsel, gerade gross genug, um einer verkrüppelten Birke Halt zu bieten, teilte ihn in zwei Arme, einen schmalen und einen breiten. Im breiten Arm rauschte das Wasser weiss schäumend um Geröll und moosbewachsene Felsbrocken; im schmalen Arm jedoch, das war der Arm, den Heinrich als Erstes durchqueren musste, floss es still, glatt und schwarz dahin, hier verlief die Haupströmung, hier war der Fluss tief und gefährlich.

Schritt für Schritt arbeitete sich Heinrich in das kalte Wasser hinaus. Er ging seitlich wie ein Krebs, das Gesicht flussaufwärts, die Hände fest um eine Holzstange geklammert, die ein Teil seines Gewichtes abstützte und ihn auffangen sollte, falls er auf den glatten Flusssteinen ausrutschte. Mit jedem Meter rückte das Wasser höher, erst reichte es ihm bis zu den Knien, die sofort in der Kälte zu schmerzen begannen, schliesslich zerrte es glucksend und zischend an seinen Oberschenkeln. Unter seinen Füssen poltertete dumpf das Geröll. Er musste sich weit auf die Stange vorlehnen, um nicht weggerissen zu werden.

Dann reichte ihm das Wasser bis zum Bauchnabel, und er begriff, dass ihn in Kürze die Kraft verlassen würde; seine Beine, die vor Kälte fast gelähmt waren, würden unter ihm nachgeben. Für eine Rückkehr zum Ufer war es zu spät. Er zwang seinen Kopf nach rechts, um die Insel in den Blick zu bekommen. Sie war nicht mehr als zwei, drei Meter entfernt. Er schnellte seitwärts an der Stange in die Höhe, kam klatschend wieder im Wasser auf und schlug mit Armen und Beinen um sich. Vor seinen Augen wurde es weiss, eine Faust trommelte auf seinen Schädel ein. Dann riss er sich die Hand an einem Stein auf, das war ein Schmerz, der nur von Weitem zu ihm kam, wie ein Echo etwa, seine Wange schürfte über Sand, die Finger gruben sich in etwas Weiches und Nachgiebiges ein, Luft schoss in seine Lunge, ein Keuchen, ein Stöhnen drang an seine Ohren, er spürte, wie ihn die Sonne sanft am Rücken berührte. Seine Füsse hingen noch im Wasser, doch von den Knien aufwärts war er in Sicherheit.

Weicher als die Hand einer Mutter bettete ihn der warme Sand der Insel. Eine kurze Zeit lang vergass er sich selber. Die Erde trug ihn, die Sonne wärmte ihn. Kitzelnd lief das Wasser aus seinen Haaren heraus. Bei jedem Schlag seiner Wimpern raschelte ein trockenes Blatt, das sich unter seinem linken Backenknochen gefangen hatte. Seine Augen, die nur einen Spalt weit offen standen, sahen nichts als den braunen Sand der Insel.

Es war bereits später Nachmittag, als er sich am Stamm der Krüppelbirke in die Höhe zog, und mit zitternden Beinen zum Stehen kam. Das Flusstal lag zum grossen Teil im Schatten, nur das Ufer, von dem er gekommen war, erhielt noch Sonne. Er konnte deutlich die Stelle sehen, an der er ins Wasser gestiegen war, dort hatte sein Fuss einen dunklen Abdruck im Uferschlamm hinterlassen. Der Himmel war von einem blassen, lichten Blau, golden überhaucht von der späten Sonne. Die hohen Wolken hatten sich aufgelöst; an ihre Stelle war ein kaum sichtbarer Dunst getreten, der sich im Westen bereits rötlich einzufärben begann und so den nahen Abend ankündigte. Der Wind war still, die Birke stand reglos in der kühler gewordenen Luft.

Heinrich schüttelte sich wie ein Hund, um den Sand abzuwerfen, der ihm im Haar und an den schon trockenen Kleidern haftete. Er staunte über die rosige Sauberkeit seiner Finger; vorsichtig betastete er die eitrigen Stellen an seinem Arm, denen das kalte Bad anscheinend gutgetan hatte. Die frische Wunde an der Hand hatte sich schon fast geschlossen. Ein deutliches Gefühl war in ihm, dass das Schlimmste nun durchstanden sei; wahrscheinlich würde er schon morgen den Felsenberg sehen und wann? – übermorgen?, überübermorgen? – mit seinen Leuten wieder vereinigt sein. So sicher fühlte er sich in diesem Glauben, dass er zum ersten Mal seit Tagen wieder an den Streit mit seinem Bruder dachte, und an alles, was damit zusammenhing, und gleich von einem dunklen Unbehagen ergriffen wurde.

Er krempelte die Hosenbeine hoch und stieg ins Wasser, das ihm nicht höher als zu den Waden ging; ja, er hätte es auch darauf anlegen können, trockenen Fusses auf die andere Seite zu kommen, denn ein Geröllbrocken lag nie weit vom nächsten entfernt. In diesem flachen und breiten Arm des Flusses war das Wasserrauschen ohrenbetäubend. Es beunruhigte ihn, und er war froh, als er am anderen Ufer angekommen war, dessen Böschung jetzt vor ihm aufragte.

Von oben hingen daumendicke Wurzelstränge herab; er hangelte sich von einem zum anderen und stemmte dabei die Füsse in den Hang. Schon konnte er den Kopf über den Rand heben, es fehlte nur ein halber Meter, ein Griff, ein Tritt, ein Schwung mit der Hüfte und er war oben – da fasste er nach einem Wurzelstrang, den es nicht gab, und er stürzte in die Tiefe. Noch im Flug wollte er den Kopf wenden und zurückschauen, er mochte nicht glauben, dass er sich so getäuscht haben sollte, doch schon schlug er auf. Er war sofort ohne Bewusstsein. Der Fluss schleifte ihn ein paar hundert Meter über das Geröll, vielleicht atmete er da noch, aber spätestens, als sein Körper in eine Strömung geriet, die ihm den Kopf unter Wasser zog, verliess ihn das Leben.

Erstaunlich: Neulich konnte ich nicht einschlafen, den Kopf voll überflüssiger Sorgen. Aus einer Laune heraus fing ich an, wie in der Kindheit, ein kleines Gebet zu sprechen. Obwohl ich kein Wort von dem glaubte, was ich da vor mich hin flüsterte, beruhigte ich mich sofort und schlief ein.