So erschreckend der Text ist, so authentisch ist er offenbar. Er stammt von Ibn Foszlan (auch Ibn Fadlan), der um 920 im Auftrag des Kalifen von Bagdad unter anderem den Süden Russlands bereiste. Das hier beschriebene Begräbnis eines Wikingerhäuptlings deckt sich mit den Berichten über ähnliche Riten in Skandinavien.

Leicht gekürzt.

"Als nun der Tag gekommen war, an dem der Verstorbene und das Mädchen verbrannt werden sollten, ging ich an den Fluss, in dem sein Schiff lag. Aber dies war schon an Land gezogen.

Die Leute fingen indes an umherzugehen und sprachen Worte, die ich nicht verstand. Alsdann kam ein altes Weib, das sie den Todesengel nennen. Ich sah sie, sie war ein Teufel mit finstern, grimmigen Blicke. Der Verstorbene aber hatte sich nicht verändert. Ihn bekleideten sie dann mit Unterbeinkleidern, Oberhosen, Stiefeln und setzten ihm eine goldstoffene Mütze mit Zobel besetzt auf.

Darauf trugen sie ihn in das auf dem Schiffe befindliche Zelt, setzten ihn auf die mit Watte gesteppte Decke, unterstützten ihn mit Kopfkissen, brachten berauschend Getränk, Früchte und Basilienkraut und legten sie vor ihn hin.

Hierauf brachten sie einen Hund, schnitten ihn in zwei Teile und warfen die in das Schiff; legten dann alle seine Waffen ihm zur Seite; führten zwei Pferde herbei, die sie so lange jagten, bis sie von Schweiss troffen, worauf sie sie mit ihren Schwertern zerhieben und das Fleisch derselben ins Schiff warfen.

Das Mädchen, das sich dem Tode geweiht hatte, ging indes umher, und trat in eins der Zelte, die sie dort hatten. Da legte sich der Bewohner desselben zu ihr, wohnte ihr bei und sprach: „Sag deinem Herrn, nur aus Liebe zu dir tat ich dies.“

Als es nun Freitag Nachmittag war, so führte man das Mädchen zu einem Dinge hin, das dem vorspringenden Gesims einer Tür glich. Sie setzte ihre Füsse auf die flachen Hände der Männer, sah auf dieses Gesims hinab und sprach dabei etwas in ihrer Sprache, worauf sie sie herunter liessen. Dann liessen sie sie wieder aufsteigen und sie tat wie das erste Mal. Wieder liess man sie herunter und zum dritten Male aufsteigen, wo sie sich wie die beiden ersten Male benahm.

Ich erkundigte mich beim Dolmetsch nach dem, was sie gesagt hatte. Das erste Mal (war seine Antwort) sagte sie: „Sieh! hier seh‘ ich meinen Vater und meine Mutter;“ Das zweite Mal: „Sieh! jetzt seh‘ ich alle meine verstorbenen Anverwandten sitzen;“ Das dritte Mal aber: „Siehe! dort ist mein Herr, er sitzt im Paradiese. Das Paradies ist so schön, so grün. Bei ihm sind die Männer und Knaben. Er ruft mich; so bringt mich denn zu ihm.“

Da führten sie sie zum Schiffe hin. Sie aber zog ihre beiden Armbänder ab und gab sie dem Weibe, das man den Todesengel nennt und das sie morden wird. Dann hob man sie auf’s Schiff, liess sie aber noch nicht in das Zelt.

Nun kamen Männer herbei mit Schildern und Stäben, und reichten ihr einen Becher berauschenden Getränkes. Sie nahm ihn, sang dazu und leerte ihn. Hiermit, sagte mir der Dolmetsch, nimmt sie von ihren Lieben Abschied. Drauf ward ihr ein anderer Becher gereicht. Sie nahm auch den und stimmte ein langes Lied an.

Da hiess die Alte sie eilen, den Becher zu leeren und in das Zelt, wo ihr Herr lag, zu treten.

Das Mädchen aber war bestürzt und unentschlossen geworden; sie wollte schon ins Zelt gehen, steckte jedoch nur den Kopf zwischen Zelt und Schiff. Stracks nahm die Alte sie beim Kopfe, brachte sie ins Zelt, und trat selbst mit ihr hinein. Sofort begannen die Männer mit den Stäben auf ihre Schilder zu schlagen, auf dass kein Laut ihres Geschreies gehört würde, der andere Mädchen erschrecken und abgeneigt machen könnte, dermal einst auch den Tod mit ihrem Herrn zu verlangen.

Dann traten sechs Männer ins Zelt und wohnten samt und sonders dem Mädchen bei. Drauf streckten sie sie an die Seite ihres Herrn. Und es fassten sie zwei bei den Füssen, zwei bei den Händen. Und die Alte, die da Todesengel heisst, legte ihr einen Strick um den Hals, reichte ihn zwei von den Männern hin, um ihn zu ziehen, trat selbst mit einem grossen breitklingigen Messer hinzu und stiess ihr das zwischen die Rippen hinein, worauf sie es wieder heraus zog. Die beiden Männer aber würgeten sie mit dem Stricke, bis sie tot war.

Nun trat nackend der nächste Anverwandte des Verstorbenen hinzu, nahm ein Stück Holz, zündete das an, ging rückwärtig zum Schiffe, das Holz in der einen Hand, die andere Hand auf seinem Hinterteil haltend, bis das unter das Schiff gelegte Holz angezündet war. Drauf kamen auch die übrigen mit Zündhölzern und anderem Holze herbei; jeder trug ein Stück, das oben schon brannte, und warf es auf jenen Holzhaufen.

Bald ergriff das Feuer denselben, bald hernach das Schiff, dann das Zelt und den Mann und das Mädchen und alles, was im Schiffe war."

C. M. Frähn: Ibn Foszlan's und anderer Araber Berichte über die Russen älterer Zeit, St. Petersburg, 1823

Wie sein Vater sollte er Rabbi werden, ging aber dann nach New York, um zu malen. Als Künstler konnte er sich nicht durchsetzen, wohl aber als Modefotograf: Zwanzig Jahre lang erschienen seine Bilder in einschlägigen Magazinen.

Dann "verschwand" er. Er ging auf keine Ausstellungen mehr, zeigte sich kaum noch in der Öffentlichkeit, zog sich von seinen Freunden zurück. Die Miete für die kleine Wohnung in Manhattan konnte er oft nicht aufbringen; oft konnte er sich nicht einmal Filme leisten - er fotografierte weiter, offenbar unermüdlich -, so dass er in Fotogeschäften um Rollen bitten musste, deren Haltbarkeitsdatum bereits überschritten war und die deshalb weggeworfen werden sollten. So lebte er jahrzehntelang.

Wenige Jahre vor seinem Tod wurde ein Dokumentarfilmer auf ihn aufmerksam; Ruhm folgte. Heute gilt Saul Leiter als einer der wichtigsten amerikanischen Fotografen des 20. Jahrhunderts.

Pierre Bonnard nannte er sein Vorbild.

Dies hatte Leiter zum Thema Schönheit zu sagen: „Vielleicht bin ich altmodisch. Aber ich bin überzeugt - es gibt so etwas wie die Suche nach Schönheit. […]. Und ich denke nicht, dass man sich dafür entschuldigen braucht.“

Ist zwar schon August, aber dennoch:

Der Geburtstag
(von Christoph Meckel, zu Unrecht fast vergessen)

O rauschender Flügel hinter meinem Rücken,
willkommen, weitwandernder Tag
mein herrlicher Juni
am grünen Morgen wiederkehrendes Jahr!

Was ich einst verlor an den Tod, ein Jahrhundert
Liebe und Honiglicht, den goldgefüllten
Knochen all meiner Zeit — du bringst ihn mir wieder
im Traum, und rollst ihn
vor meine Füße.

Kühl und frisch
wie die Haut der Kirsche
steigt das Jahr aus der Schneeflocke in den Baum
wenn weißer Neumond Gras vom Hügel sichelt
am grauen Faden die Regenspinne tanzt —
bin ich schon lange hier, so lange schon
dass du mich suchst unter Toten
am irdischen Tag?

Aus einem Abgrund Tau und Kirschenblut
funkeln die abgestiegenen Tage Azur
und Schleierkraut; die Wildtaube gurrt
das Echo der Sintflut im Kirschgarten, einst
polternd mit Scheunen
Kontinenten aus Brombeer und Harz
Ochsgebrüll und Rauschgold Sonne
in alter Mitternacht, und wilde Möhre
schwimmt vorüber im Wind, der mir aus Schlaf
ein Haus baut zwischen Bächen
grün und jung —

Du mit der Weinhaut
und dem tosenden Maul,
Hagelkorn atmend, warm wuchernden Mohn und Nacht!
Kirschkerne gewittern auf dem Schindeldach
des Paradieses, das schimmert und staubt
von Rauschgold Sonne
Küssen und Heu
und den fliegenden Ozeanen im Kirschenbaum.

Schon lange hier, schon lang
in weit wandernder Zeit
da du mich suchst unter Toten, da Tollkirschblut
und Regenbogen den schweifenden Nebel
spinnt der blau verhängt des Todes Dornenstrauch,
der Sonne, Heu und Honigmond ertränkt
in Mahlströmen alten schwarzen Kirschenwassers.

O rauschender Flügel hinter meinem Rücken!
Willkommen weit wanderndes Jahr
mein herrlicher Juni am grünen Morgen wiederkehrender Tag —
was du einmal mir gabst und dem Tod nicht, ein Jahrhundert
Liebe und Honiglicht, den goldgefüllten
Knochen all meiner Zeit - ich bring ihn dir wieder
im Traum, bevor du mich suchst, und tot
einst unter Toten findest
am irdischen Tag.

Nach dem Selbstmord meiner Schwester begab ich mich in Psychotherapie, auch weil ich die Probleme meiner Herkunftsfamilie nicht versehentlich an meine Söhne weitergeben wollte. Der Therapeut, den ich damals mehrfach im Jahr aufsuchte, hatte seine Praxis im südlichen Bayern, nicht weit von den Alpen. Auf einer der Zugfahrten dorthin fiel mir eine kroatische oder serbische Zeitung in die Hände. Sie zeigte eine Karikatur, die ich mir herausriss und lange im Geldbeutel aufbewahrte. Sie wurde zum geheimen Motto jener Jahre.

Dargestellt war links eine brennende Hundehütte und rechts ein Trupp von Feuerwehrleuten, den Löschschlauch in der Hand. Der rettende Wasserstrahl erreichte aber die Hütte nicht ganz. Warum? Weil der an der Hütte angekettete Hund die Zähne fletschte und die Feuerwehrleute wütend anbellte. Er liess sie nicht heran. Mit anderen Worten: Er verhinderte seine eigene Rettung.

Während der Therapie, die in Zehnergruppen stattfand, konnte ich immer wieder beobachten, wie wir uns gegen die angebotene Hilfe wehrten - ein in Therapien wohl häufiges Phänomen. Die Schmerzen, die uns hierhergebracht hatten, mochten unangenehm sein. Sie hatten allerdings den Vorzug des Vertrauten. Wenn es sie nicht mehr gab - was gab es dann? Diejenigen unter uns, denen es so dreckig ging, dass bei ihnen sozusagen nicht nur die Hütte, sondern schon der Pelz brannte - die hatten es am Ende einfacher. Sie nahmen das Angebot des Therapeuten an und sprangen entschlossen ins Unbekannte, denn schlimmer als das Bekannte würde es nicht sein können.

Johannes Brahms über das Komponieren (aus: Arthur Abell, Gespräche mit grossen Komponisten):

„Wie Beethoven zu erkennen, daß wir eins sind mit dem Schöpfer, ist ein wunderbares, ehrfurchtgebietendes Erlebnis. Sehr wenige Menschen gelangen zu dieser Erkenntnis, weshalb es so wenige große Komponisten oder schöpferische Geister auf allen Gebieten menschlichen Bemühens gibt. Über dies alles denke ich immer nach, bevor ich zu komponieren anfange. Dies ist der erste Schritt. Wenn ich den Drang in mir spüre, wende ich mich zunächst direkt an meinen Schöpfer und stelle ihm die drei in unserem Leben auf dieser Welt wichtigsten Fragen: woher? warum? wohin?

Ich spüre unmittelbar danach Schwingungen, die mich ganz durchdringen. Sie sind der Geist, der die inneren Seelenkräfte erleuchtet, und in diesem Zustand der Verzückung sehe ich klar, was bei meiner üblichen Gemütslage dunkel ist. Dann fühle ich mich fähig, mich wie Beethoven von oben inspirieren zu lassen. Vor allem wird mir in solchen Augenblicken die ungeheure Bedeutung der Offenbarung Jesu bewußt: „Ich und der Vater sind eins.“

Diese Schwingungen nehmen die Form bestimmter geistiger Bilder an, nachdem ich meinen Wunsch und Entschluß bezüglich dessen, was ich möchte, formuliert habe: nämlich inspiriert zu werden, um etwas zu komponieren, was die Menschheit aufrichtet und fördert - etwas von dauerhaftem Wert. Sofort strömen die Ideen auf mich ein, direkt von Gott. Ich sehe nicht nur bestimmte Themen vor meinem geistigen Auge, sondern auch die richtige Form, in die sie gekleidet sind, die Harmonien und die Orchestrierung. Takt für Takt wird mir das fertige Werk offenbart, wenn ich mich in dieser seltenen inspirierten Gefühlslage befinde.

Ich muß mich im Zustand der Halbtrance befinden, um solche Ergebnisse zu erzielen - ein Zustand, in welchem das bewußte Denken vorübergehend herrenlos ist und das Unterbewußtsein herrscht, denn durch dieses, als einem Teil der Allmacht, geschieht die Inspiration. Ich muß jedoch darauf achten , daß ich das Bewußtsein nicht verliere, sonst entschwinden die Ideen.“

Norteña ist ein mexikanischer Musikstil, der auf deutsche und polnische Einwanderer zurückgeht. Immer wieder hört man zum Beispiel die Polka heraus. Die Ziehharmonika ist das zentrale Instrument.

Das war mir alles egal. Ich bekam kein Auge zu. Am frühen Morgen, nach fünf oder sechs Stunden, war ich so am Ende, dass ich die Musiker umbringen wollte. Das Zelt woanders aufzubauen wäre zu gefährlich gewesen. Tags zuvor waren wir durch ein Dorf gekommen, in dem jemand zu Tode gefoltert worden war - das jedenfalls erzählten uns ein paar Männer dort.

Am Morgen stellten die Musiker endlich ihre furchtbaren Lautsprecher aus und schlossen die Bar.

Aus eben dieser Bar wurde ein paar Wochen später ein Dutzend Musiker entführt - ob dieselben, die mich in jener Nacht gequält hatten, weiss ich nicht. Ihre Leichen fand man in einem alten Brunnen. Auch hierzulande machte dieser Mord Schlagzeilen.

Mit fünzehn lag ich auf einer Parkbank in Vancouver und las ein Buch. Ein Mann sprach mich an. Ob ich mir Geld verdienen wolle? Er müsse ein paar Bücher irgendwo abholen und könne Hilfe gebrauchen. Sein Auto sei nicht weit von hier geparkt. Ich folgte ihm in eine Gegend voller Lagerhäuser. Er öffnete die Fahrertür. Die Beifahrertür sei kaputt, ich solle durchrutschen. Ich weigerte mich. Er legte seine Hand auf meine Schulter. Ich schüttelte sie ab und rannte fort.

Als ich später meiner Familie davon erzählte, lachte mein älterer Bruder mich aus: Das passiert nur jemandem, der so bescheuert aussieht wie du. Er hatte recht. Ich sah bescheuert aus. Ich war lächerlich gekleidet. Ich hatte mir in einem Outdoorladen einen grünen „Goldgräberhut“ gekauft. Mit ihm wollte ich vor meinen Freunden in Deutschland angeben. Als ich da auf der Bank lag, den grossen grünen Hut auf dem Kopf, das Buch lesend, sah ich mich selber so, wie ich von anderen gesehen werden wollte: Ein belesener Abenteurer. Ich war noch nicht im Stimmbruch, aber mir wuchsen schon überall Haare. Ich gab den Hut schliesslich weg.

Das Gesicht des Mannes ging mir nicht aus dem Kopf. Manchmal machte es mir solche Angst, dass ich nicht einschlafen konnte, auch Jahre später noch. Ich wusste, dass ich knapp einer Katastrophe entkommen war. Ich sah das Gesicht wieder, als ich vor rund zwanzig Jahren die Stichwörter „Vancouver Child Murderer 1980“ in eine Suchmaschine eingab. Es erschien sofort auf meinem Bildschirm. Clifford Olson hiess der Mann. Er hatte im Zeitraum von November 1980 bis Juli 1981 in Vancouver elf Jugendliche umgebracht. Ich meldete mich bei der dortigen Polizei. Aber man winkte ab: Olson war im Gefängnis. Er würde nie mehr rauskommen. Der Fall war abgeschlossen.

Olsons Methode hatte unter anderem darin bestanden, Jugendlichen einen Job zu versprechen und sie so in sein Auto zu locken. Sassen sie drinnen, kamen sie nicht mehr raus - weil sich etwa die Beifahrertür nicht öffnen liess. Er vergewaltigte sie. Er schlug mit einem Hammer auf sie ein. Manche machte er vorher mit einer Droge bewusstlos. Er band sie an Bäumen fest. Er schlug ihnen Nägel in den Kopf.

Man sieht Verbindungen wo keine sind. Etwas in mir zum Beispiel fürchtet, dass die Ermordung der Musiker in Mexiko irgendwie damit zusammenhängt, dass ich ihnen damals den Tod gewünscht habe - wenn es sich nicht doch am Ende um ganz andere Musiker handelte. Etwas in mir glaubt, dass eine junge Frau, die Clifford Olson zum Opfer fiel und ebenfalls deutsch war, ebenfalls auf Verwandtenbesuch in Vancouver war, ebenfalls aus der Nähe von Heidelberg stammte - dass diese Frau auch deshalb sterben musste, weil ich Clifford Olson entkommen war. Jemand aus meiner Gegend musste von ihm ermordet werden. Da ich es nicht war, musste sie es sein.

Das sind Glaubensreste aus der Kindheit. Sie machen den Kosmos, einen Ort, in dem der blinde Zufall regiert, zu einem Ort, der zwar vielleicht grausam ist, aber sich doch auf uns bezieht.

In Wahrheit aber gibt es da nichts - sind wir von einer schwarzen, sinnlosen Leere umgeben. So sehe ich das jedenfalls im Moment.

Dieser Hunger nach dem weiblichen Körper - er hat in all den Jahren nicht nachgelassen. Er hat sich verändert. Früher war er physischer, unpersönlicher, wenn man so will. Mit der Zeit dann ist die seelische Komponente - die seelische Bedürftigkeit - immer stärker geworden.

Es gibt nichts Besseres. Kein Abenteuer. Kein Erfolgserlebnis. Keine religiöse oder künstlerische Ekstase. Nichts kann sich mit dem messen, wie es sich anfühlt, wenn die Vereinigung - die seelische und zugleich die körperliche - gelingt. Nichts.

Heute Nacht war ich im Berliner Häuserkampf. Ein Offizier befahl mir, das schützende Gassengewirr zu verlassen und mich draussen, auf der grossen Hauptstrasse, den Russen zu stellen. Ich brachte es nicht über mich; ich wollte nicht sterben. Links rannten zwei junge Waffen-SSler vorbei, hochdekoriert, mit entschlossenen Gesichtern, voller Vorfreude auf den Kampf, der für sie nur tödlich enden konnte.

Wenn sie auch Tötungsmaschinen waren, dachte ich im Aufwachen, so waren sie doch, obwohl Jahrzehnte vor uns geboren und gestorben, unsere Kinder. Verblendet, grausam - und doch zu uns gehörend wie unser eigen Fleisch und Blut.

Im Jahr 1946 verlegte Anatole Broyard seinen Wohnsitz von Brooklyn nach Greenwich Village, um dort unter den Frauen und Männern der Bohème zu leben. Er war 26 Jahre alt.

Er zog schliesslich bei einer jungen Malerin ein, die später in den Biographien namhafter Künstlerinnen und Künstler auftauchte, als Muse, Freundin, Geliebte. Sie begannen ein Verhältnis miteinander; für ihn war es das erste Verhältnis überhaupt. Sexualität hatte er bislang nur als Soldat kennengelernt.

Sheri - so hiess seine Freundin - lud immer wieder Männer in die gemeinsame Wohnung ein, die ihn lautstark herausforderten: Er sei nicht gut genug für Sheri! Er müsse das endlich einsehen und ihn - den Herausforderer - an Anatoles Stelle lassen! Was diese Männer nicht wissen konnten, da Anatole Broyard es vor aller Welt verbarg: Er war kreolischer Abstammung, aber hellhäutig genug, um als Weisser durchzugehen. „To pass“, wie man damals sagte. Erst einige Jahre nach seinem Tod wurde dieser Umstand öffentlich bekannt und löste eine scharfe Debatte über Identität und Rassismus aus.

Offenbar erregten Sheri diese von ihr selber angezettelten Schaukämpfe. Hatte der Rivale schliesslich die Wohnung wieder verlassen, forderte sie Anatole gewöhnlich zum Sex auf.

Eines Nachts wurde Anatole Broyard aus dem Schlaf gerissen, da sich, wie er in seiner posthum erschienenen Autobiographie schreibt, „etwas in der Wohnung verändert hatte. Da war eine schmale Präsenz in der Luft, eine Art Zischlaut oder leise Schrillheit, eine schwache medizinische Note, etwa wie der Geruch, den chemische Reinigungen gelegentlich in Kleidern himterlassen. Ich bemerkte auch, dass das Licht in der Küche brannte. Ich dachte, Sheri müsse dort sein, und ich stand auf, um nach ihr zu sehen.

Sie sass auf einem Küchenstuhl. Sie war nackt. Ihre blossen Füße ruhten auf dem schmutzigen Linoleum. Die Beine waren geschlossen und die Arme hingen zu beiden Seiten des Stuhls herab, den sie zum Herd gerückt hatte. Sie lehnte auf der Seite, den Kopf auf der Oberseite des Herdes.

Alle Gasdüsen waren offen. Mein erster Gedanke war natürlich, sie zuzudrehen, aber ich zögerte. Sheri hatte mir beigebracht, nicht zu voreilig zu sein. Sie sofort zuzudrehen hiesse, den tieferen Sinn dieses Tableaus nicht zu erfassen. Der Stuhl, das auf dem Herd gefaltete Handtuch, das ihr als Kopfkissen diente, das Gas - all dies musste einen tieferen Sinn haben.

Ich starrte Sheri an, um zu erkennen, ob sie atmete, aber das war schwierig - alles hier war schwierig. Ihre Augen waren offen und ihr Gesichtsausdruck friedlich. Man hätte nie gedacht, dass tödliches Gas ein paar Zentimeter vor ihrem Mund vorbeiströmte. Sie sah aus wie jene Menschen auf mittelalterlichen Gemälden, die verklärt ihren Kopf zur Seite neigen.

Obwohl ich das Gas deutlich hören konnte, beschäftigte mich immer noch ‚der tiefere Sinn des Ganzen‘. Ich sammelte mich. Ich sog das Gas ein und hielt es wie Rauch in meiner Lunge. Ich nahm auch Sheris nackten Körper in mich auf, die kleinen Brüste und die schweren Beine, die Blässe. Ich spürte, wie die ganze Wohnung in meinem Kopf zu summen begann - das Geschirr in der Spüle, der Schmutz auf dem Boden, die Gemälde an den Wänden.

Auf der Schwelle stehend, mich an den kalten Türstock lehnend, spürte ich eine plötzliche Traurigkeit. Der Geruch war jetzt sehr stark.

Sheri hatte eine Gänsehaut, und als ich auf mein eigenes nacktes Fleisch schaute, sah ich, dass ich ebenfalls eine Gänsehaut hatte. ‚Schau’,rief ich, ‚wir haben beide eine Gänsehaut!‘

Aber das war sentimental. Das Gas machte mich sentimental - es war an der Zeit, es auszudrehen. Dann riss ich alle Fenster auf und trug Sheri ins Bett.“

Anatole Broyard, Kafka Was the Rage (übersetzt und gekürzt von mir)

Als ich in der ersten Klasse war, lauerte mir ein älterer und sehr viel kräftigerer Junge regelmässig auf dem Nachhauseweg auf, packte mich und warf mich zu Boden.

Möglicherweise suchte ich ein Ventil für meine ohnmächtige Wut, möglicherweise war ich einfach nur auf den Geschmack gekommen: Jedenfalls begann ich nun meinerseits, einen schwächeren Jungen, der in meine Klasse ging, von hinten anzuspringen. Die Angst in seiner Stimme gefiel mir.

Es sind die „Guten“, vor denen man sich fürchten muss - die, die nichts von den Abgründen in ihrem eigenen Herzen wissen.

In seinem aussergewöhnlichen Buch „War Is A Force That Gives Us Meaning“ schildert der amerikanische Kriegsreporter Chris Hedges Szenen aus der Hölle. Er war in Sarajewo, er war in Ruanda, er war im Gaza-Streifen. Und immer, so schreibt er, waren es die Idealisten - die von der eigenen Reinheit Überzeugten -, die die schlimmsten Verbrechen begingen.

Im Moment, da sie mit der Messer zustossen, glauben sie, die Welt dem Paradies ein Stück näher zu bringen.

Vor einigen Jahren begegnete mir in einer oberitalienischen Stadt eine Frau, ungefähr in meinem Alter. Sie kam in ihrem kleinen Fiat die Gasse hinab. Sie hatte sich verfahren, konnte aber das Auto nicht wenden, da ihr die Gasse zu eng war. Sie bat mich, es für sie tun. Ich tat es, sie bedankte sich, ich verabschiedete mich.

Zwei, drei Stunden später begegnete ich der Frau wieder, diesmal in einer Kirche. Ich sah mir die Altarbilder an, sie entzündete Kerzen am Eingang und warf ein paar Münzen in die Spendenkasse. Beim Hinausgehen grüßte ich sie kurz; sie sah mit tränenverschleierten Augen auf.

Am Abend, in einer Pizzeria. Wen sehe ich am anderen Ende der Bar, vor einem Glas Wein? Wieder ist sie es.

Ich setzte mich zu ihr. Doch schon nach zwei Sätzen bestätigte sich der Eindruck, den ich schon bei unserer ersten Begegnung in der engen Gasse gehabt hatte: dass wir beide uns nichts, aber auch gar nichts zu sagen hatten. Langeweile, schon nach wenigen Sätzen. Ich setzte mich zurück auf meinen Platz.

Warum beschäftigte mich diese Begegnung? Weil es wirklich so schien, als wolle das Schicksal oder irgendeine andere, sozusagen über-menschliche Macht, dass wir beide in näheren Kontakt traten. Immer wieder liefen wir uns in bedeutungsvollen Momenten über den Weg.

Aber da war in Wirklichkeit nichts. Kein Interesse, kein Funken, da war nichts zu lernen, nichts zu erfahren. Der Zufall, und nichts anderes, hatte uns dreimal auf diese Weise zusammengeführt.