Mit 25 wurde ich für eine Hauptrolle an die Wiener Burg engagiert. Das war das Grösste überhaupt, was einem Schauspieler, ob jung oder alt passieren konnte: eine Hauptrolle an Europas berühmtesten Theater.

Nach der Vertragsunterzeichnung, auf dem Weg zurück nach hause in Deutschland, wollte ich mich aus dem Zug stürzen.

Ich war jahrelang der Überzeugung gewesen, dass, wenn mir sowas gelingen würde, eine Hauptrolle an einem grossen Theater zum Beispiel — - dass dann die Hölle in meinem Kopf endlich verstummen würde. Ausgelöscht. Weg.

Wie ich aber in mich hineinhörte, während ich da im Zug zurück sass, musste ich feststellen: Das war leider nicht der Fall. Unter der Euphorie, die ich natürlich fühlte, war ich immer noch derselbe. Derselbe Schrecken. Dasselbe Chaos. Die selben, einander jagenden, einander widersprechenden Ängste. Nichts hatte sich geändert - gar nichts.

Ich vermute übrigens, dass es meiner Schwester ähnlich ging. Nur kam ihr grosser Erfolg als Filmemacherin nicht mit 25, sondern mit 36. Entsprechend mehr Jahre hatte sie Zeit gehabt zu hoffen, sich hineinzusteigern, freudig zu erwarten; entsprechend gross fiel die Enttäuschung aus. Sie brachte sich tatsächlich um.

Mein Interesse an der Schauspielerei erlosch. Was jetzt? Wie ging es mit meinem Leben weiter? Alles, worauf ich über so lange Zeit hingearbeitet hatte, war praktisch über Nacht weggebrochen. Ich ging auf eine Rad-Reise. Auf den langen, einsamen Strecken, die ich in Asien unterwegs war, wurde mir immer klarer, dass es für mich in meinem Leben eigentlich nur ein Ziel geben konnte: Ich musste nach innen gehen und herausfinden, wer ich war.

Ich stamme aus einer Familie, die man mit gutem Gewissen dysfunktional nennen kann: Kriminalität, psychische Erkrankungen, krankhafter Geiz, blutige Gewalt, religiöse Bigotterie, Selbstmord. Das spielte sich zwischen zwei Erwachsenen und ihren acht Kindern ab. Meine Eltern waren beide das, was man heute “hochbegabt” nennt. Das änderte nichts daran, dass sie menschlich und charakterlich schwer beschädigt waren, schon als Kinder vermutlich, lange jedenfalls, bevor sie selber Kinder gezeugt haben. Ich habe oft gedacht: Besser, sie hätten's gelassen.

Aber ich möchte gleich hinzufügen: Das ganze Elend war - am Ende - nicht wirklich ihre Schuld. Wenn man ernsthaft über diese Sachen nachdenkt, dann kommt man schnell dahinter: Entweder sind wir alle Opfer. Oder wir sind alle Täter. Was nämlich nicht geht, ist: Die eine Generation zu der der Opfer zu erklären. Und die andere zu der der Täter. Die Regeln gelten für alle gleich. Am besten, man lässt die ganze Opfer-Täter-Frage hinter sich. Sie führt nicht weiter. Jedenfalls nicht in den Zusammenhängen, um die es hier geht.

Um welche Zusammenhänge geht es hier? Was ging mir da auf den langen Fahrten in Asien durch den Kopf?
Erstens: Kein wie auch immer gearteter Erfolg würde das Zeug haben, mich zu erlösen. Das konnte ich also stecken.
Zweitens: Wenn ich leben wollte, musste ich da runter in mich selber, in mein Inneres. Hinschauen. Dem Schrecken ins Gesicht sehen. Den Dingen auf den Grund kommen.

Darüber schreibe ich. Davon handelt mein erstes Buch: rauschhaftes Unterwegssein. Davon handelt mein zweites Buch: lange, ziellose Wanderungen durch die Nacht auf der Suche danach, eine neue Haltung zum Tod - und damit zum Leben - zu finden. Davon handelt das Buch, an dem ich jetzt schreibe: Sexualität, und zugleich die Loslösung vom gewalttätigen Vater.

Ich bin, wenn man so will, aus Not und dann aus leidenschaftlichem Interesse heraus Experte meiner selbst geworden. Insofern wir uns alle am Ende ähneln, kann das, was ich im Lauf der Jahre über mich selber rausgefunden habe, auch für andere von Interesse sein.

Eine Sache ist mir noch wichtig: Mir geht es nicht alleine um Beschreibung - das haben andere schon getan, mitunter nobelpreiswürdig — mir geht es um Wandlung, um Heilung.