Die Prärie (1996)

„Du Schweinehund! Du Schwein!“ Heinrich wusste, dass diese Schreie ihm galten. Er drehte sich um, gerade rechtzeitig, um noch das verzerrte Gesicht seines Bruders auf sich zurasen zu sehen, die aufgerissenen, hasserfüllten Augen, die gebleckten Zähne. Im nächsten Moment lag er im Staub, sein Bruder kniete auf ihm, auf seinen Oberarmen, und spuckte ihm ins Gesicht, schlug ihm mit beiden Fäusten auf die Augen. Heinrich warf seinen Kopf hin und her, er bäumte sich auf, um seinen Bruder abzuwerfen, der fest wie ein Reiter auf ihm sass, er versuchte vergeblich, seine Arme zu befreien. Doch Felix, obwohl ein Jahr jünger, war stärker und vor allem gewandter als er; er war der Liebling des gesamten Treks, und dieser Umstand verlieh seinen Fäusten eine besondere Schlagkraft, die Schlagkraft des Gerechten und Geliebten.

„Gib’s zu!“, brüllte er zwischen den Schlägen, „gib's zu!“

Heinrich gelang es, den linken Arm zu befreien, er erwischte Felix am Haar und riss ihn, laut aufschreiend, von sich herunter. Nun war er am Zug! Doch ehe er auf die Knie kommen konnte, erhielt er einen harten Stoss in den Rücken, der ihn bäuchlings zurück in den Staub warf. Eine hohe Männerstimme, es war die Stimme seines Onkels Josef, schrie voller Verachtung:

„Dir werde ich es zeigen, andere an den Haaren zu reissen, du Mädchen!“

Heinrich, der regungslos liegenblieb, das Gesicht halb im Bodenstaub vergraben, hörte seinen Bruder stöhnend aufstehen. Aus dem Winkel des einen Auges sah er, wie der Onkel einen Arm um Felix legte und mit ihm zwischen zwei Planwagen verschwand.

Noch mehr als das traf ihn etwas anderes. In dem verschwommenen Ausschnitt, den sein mit Staub verklebtes Auge ihm gewährte, erkannte er zu seinem Entsetzen, dass das ganze Lager zusammengelaufen war. Die Schreie hatten die anderen wohl angelockt, und nun standen sie kopfschüttelnd da. Sie hatten alles mit angesehen; sie hatten gesehen, wie er seinen allseits beliebten Bruder an den Haaren gezogen hatte, „wie ein Mädchen“, und bald würden sie auch den Grund für den gerechten Zorn seines Bruders wissen, dass er ihm nämlich das kostbare Klappmesser gestohlen hatte; und ohne Zweifel würde er jetzt noch tiefer in der allgemeinen Achtung sinken. Man nannte ihn schon, wegen ein paar früherer Vorkommnisse, einen Lügner, jetzt würde man ihn auch noch einen Dieb heissen.

Heinrich richtete sich blinzelnd auf. Die Zeugen seiner Schande waren zurück an ihre jeweilige Arbeit gegangen, und nur ein paar kleine Kinder standen noch da und starrten ihn mit aufgerissenen Augen an.

Er stand er auf und überquerte den runden Platz, den die zusammengeschobenen Planwagen bildeten. Am Wagen seiner Familie blieb er horchend stehen. Als er sicher sein konnte, dass niemand zu Hause war, stieg er ein. Drinnen war es dunkel, doch hätte er sich auch mit verbundenen Augen zurechtgefunden. Aus der Holzkiste, in der die Mutter Saatgut und Bibel aufbewahrte, zog er ein Leinensäckchen und entnahm ihm das gestohlene Messer. Er klappte die Klinge auf, setzte die Spitze an, wo er sein Herz vermutete; dann legte er das Messer, wie es war, auf die Holzkiste, horchte, und glitt zum offenen Ende des Wagens. Er liess sich hinab auf den Erdboden, horchte abermals, und schoss darauf, so schnell ihn seine dreizehnjährigen Beine trugen, zum Rand der Senke, in der die Planwagen aufgestellt waren. Er erreichte der Böschung, kletterte sie auf allen Vieren hoch, wobei er sich an Sträuchern festhielt und die Füsse hart in den Boden stiess, und ein paar Herzschläge später war er oben angekommen, er spürte das zuallererst an dem Wind, der ihm mit überraschender Kraft in das erhitzte Gesicht blies. Die Prärie lag offen vor ihm, mit ihren gelben, im Wind wogenden Hügeln und dem weiten Himmel. Da erreichte ihn der wütende Schrei des Postens, der irgendwo verborgen Wache hielt, und ohne sich umzudrehen, ohne einen Blick zurück auf die Planwagen zu werfen, die dort unten im Nachmittagslicht standen – rannte er in das hüfthohe Präriegras hinaus und war einen Moment später verschwunden.

Er rannte und rannte, und als er dachte, die Lunge würde ihm zerreissen, rannte er immer noch weiter. Doch plötzlich liess er sich fallen. Er überschlug sich und kam keuchend auf dem Rücken zum Liegen. Er rührte sich nicht. Seine Augen waren auf den Himmel gerichtet, doch sahen sie nichts, so sehr pochte das Blut in ihnen. Aus allen Poren seines Körpers schoss der Schweiss heraus. Er schwemmte über Stirn und Oberlippe und weichte die Haut im Nacken auf, sodass das niedergebrochene Gras dort zu stechen begann. Seine Arme, ohne dass er es merkte, streckten sich und kehrten die nassen Handteller dem Himmel zu. Die Augen fielen ihm zu. Ein herrlicher Friede kehrte in ihn ein, strömte mit dem Blut bis in die letzte Faser seines Körpers, füllte jede Zelle aus, sodass sein Bewusstsein aus nichts mehr bestand als dem Herzschlag, der seinen Körper rhythmisch erbeben liess, dem Schweiss, dem Keuchen seines Atems, und jenen rätselhaften, hellrot gefärbten Schattenbildern, die die Sonne hervorruft, wenn sie durch geschlossene Lider auf die Netzhaut fällt.

Nach einer Ewigkeit öffnete Heinrich seine Augen und blickte in den hohen Himmel über sich. Links und rechts, zu seinen Füssen und zu seinem Kopf stand das Gras. Es ragte hoch über ihm auf, wie ein gelber Herbstwald, und ganz weit oben, wo die Stengel übergingen in lange, spitz zulaufende Blätter, wo die Farben unsicher wurden und die Welt im Licht verschwamm, war ein Zittern und Rascheln und Zischeln – dort oben spielte der Wind mit den Grasspitzen, die er mal in die eine, mal in die andere Richtung bog.

Hier unten jedoch, am Erdboden, stand die Luft still.

„Ich gehe nie mehr zurück“, dachte er, „nie mehr. Lieber sterbe ich.“

Er dachte an seinen toten Vater, an das zerfallene Bauernhaus, das sie zurückgelassen hatten; ein Gesicht tauchte in seiner Erinnerung auf, das Gesicht eines kleinen Jungen, der im Nachbarhaus gewohnt hatte, und ohne zu wissen warum, erfüllte ihn dieses Gesicht nun mit einer schmerzhaften Sehnsucht, dabei hatte er den Jungen doch kaum gekannt; dann fragte er sich lange, ob er damals, kurz vor ihrer Abreise, dem Pfarrer die zehn Vaterunser aufgesagt hatte, die er ihm versprochen hatte, oder ob es in der allgemeinen Erregung des Aufbruchs vergessen worden war, doch er konnte und konnte, sosehr er sich auch den Kopf zerbrach, keine eindeutige Antwort darauf finden, mal schien es ihm als habe er, ja, vor dem Pfarrer gestanden und ihm mit gefalteten Händen die Gebete dargebracht, dann wieder, als sei das gar nicht der Pfarrer, an den er sich erinnere, sondern irgendein bettelnder Bayer oder Österreicher, dem er in Bremerhaven ein Stück Brot gegeben hatte. Diese Ungewissheit ärgerte ihn so, dass er sich schliesslich auf die Seite warf, um alle Gedanken an die Sache abzuschütteln. Er bettete seinen Kopf in die Hände und blickte in den Gräserwald hinein, der sich dunkel und dichtstehend vor ihm erstreckte. Lichtsplitter huschten zwischen den Stengeln hin und her, und als sich seine Augen an den Halbschatten gewöhnt hatten, sah er auch Ameisen und schwarze, glänzende Käfer auf dem braunen Boden umherkriechen. Da fiel ihm das Messer wieder ein, und in einer Aufwallung von Scham und Schmerz schrie er:

„Nie mehr, nie mehr gehe ich dorthin zurück!“

Ja, er hatte seinem Bruder das Messer gestohlen! Ja, er war ein Dieb! Und – waren die anderen, die ihn immer verachtet, die ihn ausgeschlossen und sich gegen ihn verschworen hatten, waren die etwa keine Verbrecher? Erzählten die nicht täglich neue Lügen über ihn, um ihn schlechtzumachen?

Tränen schossen ihm in die Augen. Wo war der, der ihm Recht geschehen liesse? Wo war der, der ihn liebte? Er war alleine – alleine.

Er setzte er sich mit brennenden Augen auf und sagte laut:

„Ich gehe nicht mehr zurück.“

Er hatte alle Überzeugungskraft, derer er fähig war, in seine von Tränen noch brüchige Stimme gelegt, dennoch kroch sofort ein hässlicher Zweifel auf. Er schlug mit der Faust auf den Erdboden – vergebens. Ein Gewicht legte sich auf seine Schultern, es war das übliche Gewicht seiner Existenz, alle Kraft verliess ihn, er sackte zusammen und blickte nur noch dumpf vor sich hin. Hin und wieder schoss ein Bild durch ihn hindurch, dann sah er, wie er erhobenen Hauptes vor den gesamten Auswandererzug hintrat und verächtlich ausspuckte, oder wie seine Mutter, seine harte Mutter, über seiner Leiche zusammenbrach, die man eben aus dem Fluss gezogen hatte. Aber keines dieser Bilder hatte Kraft, es waren nicht einmal Wunschvorstellungen, sondern nur leere Gedankenspielereien, die kaum ein Gefühl in ihm wachriefen. Es half ja doch alles nichts – bald würde er aufstehen, diese Kuhle im Gras hier verlassen, und zurückkehren ins Lager. Was ihn dort erwartete, war so schrecklich, dass er jedem Gedanken daran auswich.

Das dringende Bedürfnis, seine Blase zu erleichtern, zwang ihn schliesslich zum Aufstehen. Wieder überraschte ihn die Heftigkeit des Windes. Er drehte ihm den Rücken zu und blickte dem Urinstrahl nach, der wie ein Sprühregen weit über die Gräser getragen wurde und sich glänzend in den Blättern verfing. Die Anhöhe, hinter der sich das Lager verbarg, befand sich ein gutes Stück nördlich von ihm; er würde es wohl knapp vor Sonnenuntergang zurückschaffen.

Als er den Kamm der Anhöhe erreichte, mit vor Angst klopfendem Herzen, und sich die Senke vor ihm öffnete – blieb er wie erstarrt stehen. Die Senke war leer. Kein Planwagen, kein Mensch – nur Gras, das am tiefsten Punkt der Senke ausdünnte und in einen schwarzsilbernen Tümpel überging.

Heinrich starrte den Schatten an, den die Anhöhe über die Senke warf und an dessen obersten Ende er sich selber, winzig klein, erkennen konnte; er drehte sich um, blickte in die Prärie hinaus, drehte sie wieder um. Er sank zu Boden und verbarg den Kopf in den Händen.

Zunächst glaubte er, dies also sei die Strafe, die die anderen sich für ihn ausgedacht hatten, nämlich weiterzuziehen und ihn hier alleine in der Wildnis zurückzulassen. Doch dann kam er zur Besinnung, und ihm wurde bewusst, dass er sich verirrt hatte.

Er sprang auf. Von seinem erhöhten Standpunkt aus konnte er viele Meilen weit sehen – und was er sah, erfüllte ihn mit Furcht. Nirgendwo in der Steppe waren Spuren des Treks zu entdecken, weder im Osten, wo sich bereits die Dämmerung über die Täler senkte, noch im Westen, dem abendlichen Horizont zu. Auf der Prärie, die auch von Tieren gänzlich verlassen schien, lag der rötliche Hauch der untergehenden Sonne, und der Wind, der am Nachmittag noch stetig geblasen hatte, huschte jetzt in dunklen, unruhigen Böen über das Gras.

Am Fuss der Anhöhe konnte Heinrich seine eigenen Spuren ausmachen, er rannte hinab und folgte ihnen, bis er im letzten Licht des Tages zu der Stelle gelangte, an der er den Nachmittag verbracht hatte. Dort entdeckte er, tief zu Boden gebeugt, etwas aufgewühlte Erde – und mit unendlicher Erleichterung folgte er dem, was er für seine Fährte vom Nachmittag hielt. Nichts, auch nicht die demütigendste Strafe, konnte sich mit dem Schrecken messen, den die leere Wildnis in ihm hervorrief. Doch sei es, dass er von vorne herein einer Täuschung erlegen war, sei es, dass er irgendwann von der ursprünglichen Fährte abgekommen und auf einen Wildwechsel geraten war – als er Stunden später an ein trockenes Flussbett kam, das im Sternenlicht wie mit weissem Mehl bestäubt schien, wusste er, dass er sich wieder verirrt hatte.

Vier Tage suchte Heinrich nach dem Auswandererzug. Er folgte allen Einflüsterungen seiner Hoffnung, die ihn kreuz und quer durch die Prärie trieben, mal planvoll und bedächtig, mal ihn vorwärtsjagend wie einen Irrsinnigen. Zweimal, an jeweils verschiedenen Orten, dachte er, seine Mutter oben auf einem Hügel zu sehen, wie sie nach ihm Ausschau halte; doch beide Male trog ihn ein tanzender Staubwirbel. Einen ganzen Vormittag lang sass er reglos auf dem Erdboden, unfähig, auch nur einen Finger zu rühren – da erschien die durchsichtige Gestalt seines Schutzengels vor ihm und wies auf einen entfernten Höhenzug. Heinrich rannte durch die Steppe; als er den Höhenzug erreicht hatte, brauchte er lange, bis er begriff, dass seine Augen ihm die Wahrheit sagten – dass auch hier niemand auf ihn wartete, niemand den Kopf überrascht nach ihm umdrehte. Entkräftet liess er sich zu Boden fallen und sank in einen traumlosen Schlaf. Er hatte während der letzten Tage kaum Wasser zu sich genommen, kaum geschlafen, und keinen Bissen gegessen; nun forderte der Körper sein Recht.

Mitten in der Nacht erwachte er. Er setzte sich auf. Er wusste nicht, wo er war. Alle Angst war von ihm gewichen und er fühlte sich leicht und leer. Mit weit geöffneten Augen blickte über die Prärie, die sich dunkel vor ihm ausbreitete und in der Ferne mit dem Himmel verschmolz, einem klaren, sommerlichen Sternenhimmel. Die Präriehunde kläfften; ein kühler und doch angenehmer Wind wehte um seine Stirn. Er begriff zum ersten Mal in seinem Leben, dass all dies auch ohne existierte, dass diese Welt, so rätselhaft vor seinen Augen ausgebreitet, in keiner Weise auf ihn angewiesen war; dass sie, die es schon immer gab, nach seinem Tod genauso fortbestehen würde, wie er sie jetzt sah.

Ein heller Morgen brach an. Noch im Aufwachen erkannte er, auf welche Weise er sich retten müsste, es lag alles klar und deutlich vor ihm. Von den Gesprächen der Erwachsenen wusste er, dass der Auswandererzug einer ganz bestimmten Route nach Westen folgte; sie führte durch die Prärie hindurch zu einem Felsenberg, der den Übergang zum Gebirge markierte. Dieser Felsenberg nun, so hatte er es oft gehört, besass eine eigentümliche, nicht zu übersehende Form, die schon vielen Zügen vor ihnen als Wegweiser gedient hatte: Er sah aus wie ein hoher Kirchturm, dessen Spitze allerdings mit einem runden Fels gekrönt war.

Heinrich stand auf. Am westlichen Horizont, blassrosa angestrahlt von der Morgensonne, zeichnete sich als dünne Linie das Gebirge ab. Wie viele Tagesmärsche war es noch entfernt? Drei? Sieben? Weit konnte es nicht mehr sein, und wenn er direkt darauf zuhielt, würde er früher oder später jenen kirchturmartigen Berg erblicken und unweit von ihm auch auf die Spuren seines Zuges stossen; ab da konnte seine Rettung nur noch eine Frage der Zeit sein.

Zwei Tage später öffnete sich ein Flusstal unter ihm, das sich wie ein gewaltiger Graben quer durch die Prärie zog. Das Gebirge war jetzt nicht mehr fern, schon konnte er einzelne Gipfel ausmachen. Er setzte sich auf einen Stein und ruhte aus. Es war später Vormittag. Sein Atem ging schnell, seine Beine zitterten. Eine flackernde Lustigkeit war seit dem Morgen in ihm gewesen, wenn er stolperte, hatte er kichern müssen, auch ein Vogelschwarm am Himmel hatte sein Lachen erregt – doch jetzt, wie er so da sass, seinem eigenen Atem zuhörte, wurde er sofort müde. Er stützte das Kinn in die Hände und blickte gleichgültig über die Landschaft, die sich unter ihm ausbreitete.

Der Fluss schlängelte sich in einer doppelten Kurve durch das sandige Schwemmland, auf dem hier und dort, gleich Inseln, kleine Gruppen von Sträuchern und Bäumen wuchsen. Jenseits des Flusses stieg das Gelände an, dort hatten frühere Hochwasser ihre dunklen Linien in den weichen Grund geschnitten, und dann kamen wieder die Hügel, und auf den Hügeln das Gras. Die Wolken standen sehr hoch am Himmel. Sie sahen aus wie flüchtig hingestrichen, und obgleich sie sich nicht zu bewegen schienen, verschwand immer wieder die Sonne für Minuten hinter ihnen; dann fiel ein Schatten über die Prärie, das Glitzern des Flusses erlosch, die Abhänge wurden glatt und finster.

Er schätzte den Weg ab, den er durch das Tal nehmen würde; dieser Blick, der zwischen zwei Lidschlägen die Gesamtheit einer Landschaft erfasste, ihre Hindernisse und verborgenen Passagen, war ihm zu zweiten Natur geworden. Rechts der glitzernden Doppelkurve weitete sich der Fluss. Aus dem flachen, ruhig dahinströmendem Wasser erhoben sich Sandbänke und Geröllinseln, dort würde er eine Furt finden. Mit einem Ruck machte er sich auf.

Nach einigen Schritten neigte sich das Gelände, er kam an eine Böschung, die steil nach unten fiel. Er liess sich auf die Knie nieder, krallte die Hände in den Boden, und schob rückwärts die Beine über den Rand. Seine nackten Füsse fanden schnell Halt, und Stückchen für Stückchen liess er sich hinab, die Wange gegen den kalten Lehm gepresst, dessen scharfen Geruch er mit jedem Atemzug in die Nase sog. Ein periodisches Zittern lief durch seinen Körper und liess die Zähne klappernd aufeinanderschlagen. Zu trinken fand er überall genug: den letzten Bissen allerdings hatte er vor einer Woche zu sich genommen, im Lager. Seitdem hungerte er.

Einmal trat sein Fuss ins Leere; da hing er Momente lang regungslos da, gehalten nur von seinen Händen.

Am Fuss der Böschung blieb er einfach stehen, so erschöpft war er. Ihm schwindelte. Er schlug sich durch Dornensträucher und Büsche und kam in einen Birkenhain, wo der Boden weich unter seinen Füssen nachgab. Er legte sich hin und schloss die Augen.

Die Sonne weckte ihn am frühen Nachmittag, sie schien direkt in sein Gesicht. Mit verquollenen Augen richtete er sich auf und starrte den zersplitterten Bildern hinterher, die ihm der Schlaf gebracht hatte. Seine Zunge war geschwollen, sein Kopf schmerzte; dieser Kopfschmerz war vor einiger Zeit an die Stelle des Hungers getreten. Auf allen Vieren kroch er zu einem Bach, der zwischen grauen Steinen den Birkenhain durchfloss, und saugte das kalte Wasser in sich hinein. Er drehte sich auf den Rücken und schaute in den Himmel hoch.

Über ihm rauschte der Wind in den Birken. Die Blätter glitzerten, als seien kleine Spiegel an ihnen befestigt, und durch die Luft trieben silberne Spinnenfäden, die ersten Vorboten des Herbstes. Das Licht glänzte auf den weissen Stämmen der Birken. Er hob eine Hand vor die Sonne, sodass er die Fingerknochen als dunkle Schatten im roten Fleisch sehen konnte. Noch dunkler zeichneten sich die winzigen Eiterschwären ab, von denen die Hände, wie auch Füsse und Arme, überzogen waren; diese Wunden hatte er sich vor zwei Tagen bei einem Sturz in einen dornenbewucherten Graben zugezogen. Ausserdem blutete er zwischen den Zehen, seine linke Wade schmerzte bei jedem Schritt, als bohre sich dort ein Nagel in sein Fleisch, und der ganze Rücken war wund, denn sein Hemd, zerrissen wie es war, schützte ihn nur schlecht vor der Sonne; doch all das bemerkte er kaum noch. Gestern früh aber war er weinend auf die Knie gesunken: da hatte er im Selbstgespräch den Mund zu weit geöffnet, dessen Lippen der Wind mit Schorf bezogen hatte, und sofort war ihm das Blut am Kinn hinabgelaufen.

Seine Gedanken wandten sich dem Fluss zu, der jenseits des Birkenhaines lag. Er würde einen Stock brauchen, um ihn sicher überqueren zu können; das Wasser würde kalt sein, und wenn die Kleider nachher nicht die Zeit hatten, in der Sonne zu trocknen, würde er nachts frieren müssen. Diese Überlegung schreckte ihn auf.

Der Fluss roch nach Sand und altem Treibholz. Er war sehr viel breiter, als Heinrich erwartet hatte. Eine Sandinsel, gerade gross genug, um einer verkrüppelten Birke Halt zu bieten, teilte ihn in zwei Arme, einen schmalen und einen breiten. Im breiten Arm rauschte das Wasser weiss schäumend um Geröll und moosbewachsene Felsbrocken; im schmalen Arm jedoch, das war der Arm, den Heinrich als Erstes durchqueren musste, floss es still, glatt und schwarz dahin, hier verlief die Haupströmung, hier war der Fluss tief und gefährlich.

Schritt für Schritt arbeitete sich Heinrich in das kalte Wasser hinaus. Er ging seitlich wie ein Krebs, das Gesicht flussaufwärts, die Hände fest um eine Holzstange geklammert, die ein Teil seines Gewichtes abstützte und ihn auffangen sollte, falls er auf den glatten Flusssteinen ausrutschte. Mit jedem Meter rückte das Wasser höher, erst reichte es ihm bis zu den Knien, die sofort in der Kälte zu schmerzen begannen, schliesslich zerrte es glucksend und zischend an seinen Oberschenkeln. Unter seinen Füssen poltertete dumpf das Geröll. Er musste sich weit auf die Stange vorlehnen, um nicht weggerissen zu werden.

Dann reichte ihm das Wasser bis zum Bauchnabel, und er begriff, dass ihn in Kürze die Kraft verlassen würde; seine Beine, die vor Kälte fast gelähmt waren, würden unter ihm nachgeben. Für eine Rückkehr zum Ufer war es zu spät. Er zwang seinen Kopf nach rechts, um die Insel in den Blick zu bekommen. Sie war nicht mehr als zwei, drei Meter entfernt. Er schnellte seitwärts an der Stange in die Höhe, kam klatschend wieder im Wasser auf und schlug mit Armen und Beinen um sich. Vor seinen Augen wurde es weiss, eine Faust trommelte auf seinen Schädel ein. Dann riss er sich die Hand an einem Stein auf, das war ein Schmerz, der nur von Weitem zu ihm kam, wie ein Echo etwa, seine Wange schürfte über Sand, die Finger gruben sich in etwas Weiches und Nachgiebiges ein, Luft schoss in seine Lunge, ein Keuchen, ein Stöhnen drang an seine Ohren, er spürte, wie ihn die Sonne sanft am Rücken berührte. Seine Füsse hingen noch im Wasser, doch von den Knien aufwärts war er in Sicherheit.

Weicher als die Hand einer Mutter bettete ihn der warme Sand der Insel. Eine kurze Zeit lang vergass er sich selber. Die Erde trug ihn, die Sonne wärmte ihn. Kitzelnd lief das Wasser aus seinen Haaren heraus. Bei jedem Schlag seiner Wimpern raschelte ein trockenes Blatt, das sich unter seinem linken Backenknochen gefangen hatte. Seine Augen, die nur einen Spalt weit offen standen, sahen nichts als den braunen Sand der Insel.

Es war bereits später Nachmittag, als er sich am Stamm der Krüppelbirke in die Höhe zog, und mit zitternden Beinen zum Stehen kam. Das Flusstal lag zum grossen Teil im Schatten, nur das Ufer, von dem er gekommen war, erhielt noch Sonne. Er konnte deutlich die Stelle sehen, an der er ins Wasser gestiegen war, dort hatte sein Fuss einen dunklen Abdruck im Uferschlamm hinterlassen. Der Himmel war von einem blassen, lichten Blau, golden überhaucht von der späten Sonne. Die hohen Wolken hatten sich aufgelöst; an ihre Stelle war ein kaum sichtbarer Dunst getreten, der sich im Westen bereits rötlich einzufärben begann und so den nahen Abend ankündigte. Der Wind war still, die Birke stand reglos in der kühler gewordenen Luft.

Heinrich schüttelte sich wie ein Hund, um den Sand abzuwerfen, der ihm im Haar und an den schon trockenen Kleidern haftete. Er staunte über die rosige Sauberkeit seiner Finger; vorsichtig betastete er die eitrigen Stellen an seinem Arm, denen das kalte Bad anscheinend gutgetan hatte. Die frische Wunde an der Hand hatte sich schon fast geschlossen. Ein deutliches Gefühl war in ihm, dass das Schlimmste nun durchstanden sei; wahrscheinlich würde er schon morgen den Felsenberg sehen und wann? – übermorgen?, überübermorgen? – mit seinen Leuten wieder vereinigt sein. So sicher fühlte er sich in diesem Glauben, dass er zum ersten Mal seit Tagen wieder an den Streit mit seinem Bruder dachte, und an alles, was damit zusammenhing, und gleich von einem dunklen Unbehagen ergriffen wurde.

Er krempelte die Hosenbeine hoch und stieg ins Wasser, das ihm nicht höher als zu den Waden ging; ja, er hätte es auch darauf anlegen können, trockenen Fusses auf die andere Seite zu kommen, denn ein Geröllbrocken lag nie weit vom nächsten entfernt. In diesem flachen und breiten Arm des Flusses war das Wasserrauschen ohrenbetäubend. Es beunruhigte ihn, und er war froh, als er am anderen Ufer angekommen war, dessen Böschung jetzt vor ihm aufragte.

Von oben hingen daumendicke Wurzelstränge herab; er hangelte sich von einem zum anderen und stemmte dabei die Füsse in den Hang. Schon konnte er den Kopf über den Rand heben, es fehlte nur ein halber Meter, ein Griff, ein Tritt, ein Schwung mit der Hüfte und er war oben – da fasste er nach einem Wurzelstrang, den es nicht gab, und er stürzte in die Tiefe. Noch im Flug wollte er den Kopf wenden und zurückschauen, er mochte nicht glauben, dass er sich so getäuscht haben sollte, doch schon schlug er auf. Er war sofort ohne Bewusstsein. Der Fluss schleifte ihn ein paar hundert Meter über das Geröll, vielleicht atmete er da noch, aber spätestens, als sein Körper in eine Strömung geriet, die ihm den Kopf unter Wasser zog, verliess ihn das Leben.