Aber warum wollte ich mich aus dem Zug stürzen (siehe Post vom 10.12.22)? Weil mir schlagartig klar geworden war, dass ich dazu verdammt war, ein unglückliches Leben zu führen. Wie gesagt - nichts von dem, was ich mir erhofft hatte, hatte sich erfüllt. Keine Erlösung. Keine Befreiung. Alles umsonst.

Ich blieb dennoch am Theater, wenigstens eine Zeit lang, und das war nicht verkehrt. Denn dort warteten einige wertvolle Lektionen auf mich.

Eine dieser Lektionen hatte mit einem Schauspieler zu tun, der rund 30 Jahre älter als ich war.

Der Ruhm war spät zu ihm gekommen. Er hatte sich viele Jahre mit kleinen Nebenrollen begnügen müssen, war jetzt aber einer der Stars des Theaters - und damit einer der Stars des deutschsprachigen Theaters überhaupt.

Er war kein schöner Mann. Er war einmal sehr übergewichtig gewesen, und deshalb war seine Haut überdehnt - sie hing ihm in Falten von den Wangen herab. Seine Ausstrahlung war die eines kalten und hochmütigen Menschen, weshalb er oft Bösewichter spielte. Um die Augen hatte er etwas Lauerndes - als warte er nur darauf, bei seinem Gegenüber eine Schwäche zu entdecken.

Allerdings konnte seine Arroganz plötzlich in Unterwürfigkeit umschlagen, in eine Beflissenheit dem anderen zu gefallen, die etwas Anrührendes hatte. Ich erlebte das selber mehrfach mit ihm und war jedesmal so verblüfft, dass es mir für einen Moment buchstäblich die Sprache verschlug. Übrigens glänzte er auch immer wieder in komischen Rollen, in denen er genau dieses Unterwürfige der Lächerlichkeit preisgab.

Wenn ich ihm über den Weg lief - auf der Probe, in der Kantine - war eine unerklärliche Spannung in mir. Ich konnte ihm kaum ins Gesicht sehen und wich ihm deshalb gewöhnlich aus.

Privat begegnete ich ihm in der Regel nicht, da die Schauspieler, mit denen ich befreundet war, in meinem eigenen Alter waren - also zwischen zwanzig und dreissig.

Zu diesen Freunden gehörte auch eine sehr schöne Schauspielerin, die aus Norddeutschland stammte. Sie war sportlich, hatte hellblondes Haar und tiefgrüne Augen. Wir verbrachten viel Zeit miteinander, hatten aber keine sexuelle Beziehung. Enge Freunde - das war alles.

Eines Tages vertraute sie mir an, dass sie ein Verhältnis mit einem sehr viel älteren Kollegen angefangen hatte, von dem niemand wissen durfte, da der betreffende Mann verheiratet sei. Es handelte sich um eben jenen Schauspieler.

In den folgenden Wochen erfuhr ich von ihr immer mehr Details dieser - nicht einfachen - Beziehung. Zum Beispiel, dass ihr neuer Freund keinen Geschlechtsverkehr haben wollte. Nicht, weil er ihn aus medizinischen oder psychischen Gründen nicht haben konnte, sondern weil er ihn tatsächlich nicht wollte, und zwar mit niemandem; er wollte anderen Menschen körperlich nicht nah kommen.

Auf der Bühne musste er, wenn die Rolle das verlangte, sich umarmen lassen oder jemandem einen Kuss auf die Wange drücken. Aber im Privatleben verbitte er sich das; menschliche Berührung stosse ihn ab.

Alles, was an Sex mit ihm möglich war und was sie auch miteinander praktizierten: Sie nahmen in gehörigem Abstand zueinander Platz und masturbierten voreinander. Meine Freundin empfand das als befremdlich und unbefriedigend.

Eines Abends sass ich mit eben jenem Schauspieler und drei oder vier anderen Personen in einem Restaurant. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits am Theater gekündigt. Ich hatte den Kopf voll mit den Bildern einer langen, möglichst jahrelangen Reise, zu der ich bald aufbrechen wollte.

Wie auch immer: Meine Scheu dem Schauspieler gegenüber, die ich zunächst gleich wieder empfunden hatte, verlor sich im Lauf des Abends. Schliesslich schlug sie sogar in eine prickelnde Angriffslust um. Ihm in die Augen zu sehen bereitete mir keine Schwierigkeiten mehr; im Gegenteil, ich suchte seinen Blick über den Tisch hinweg und mischte mich schliesslich in ein Gespräch ein, das er mit seinem Tischnachbarn führte, einem Regisseur oder Dramaturgen.

Was das Thema der Unterhaltung war - daran kann ich mich nicht erinnern. Sehr wohl aber an ein rauschhaftes Gefühl von intellektueller Überlegenheit, in das ich mich immer weiter hineinredete. Er verleitete mich dazu, das Gespräch wiederholt in Richtung Sex zu lenken.

Ich ahnte natürlich, dass dem Schauspieler gerade dieses Thema unangenehm war. Von seinen zunehmend kühleren Erwiderungen liess ich mich nicht abschrecken. Es kam, wie es kommen musste: Der Schauspieler wurde ungehalten, dann wütend. Er nahm das Du zurück, wurde schliesslich sogar beleidigend. Wir gingen auseinander.

Was hatte mich da nur geritten? Warum hatte ich mich da wie ein Arschloch benommen? Erst Monate später begriff ich es, da war ich schon unterwegs auf meiner Reise.

Ich hatte eine Art Abstossung vorgenommen - ohne, dass mir das im entsprechenden Moment bewusst gewesen wäre. Etwas in meiner psychologischen Grundstruktur, das ich selber nicht wahrnehmen wollte, ähnelte etwas in der psychologischen Grundstruktur des Schauspielers - was mir zutiefst unangenehm war. Ich wollte unter keinen Umständen so sein oder so werden wie er: emotional abgeschlossen von der Welt; eingemauert in meine eigene Angst; buchstäblich unberührbar. Das Bild der beiden, wie sie - weit entfernt voneinander - masturbierend sich gegenüber sassen, war für mich ein Bild aus der Hölle.

So ist es ja: Wir mögen Menschen, wenn sie uns ähneln. Aber mitunter mögen wir sie gerade deshalb nicht.