1.

Vor einiger Zeit besuchten wir ein befreundetes Ehepaar, das in den Bergen ausserhalb Madrids lebt. Sie bewohnen dort ein Haus, das ihnen ein Mäzen - unsere Freunde sind beide Künstler - zur Verfügung gestellt hat.

Auf dem Rückweg mussten wir mitten in den Bergen umsteigen. Aber der Anschlussbus kam lange nicht: An der Haltestelle sammelten sich immer mehr Menschen, die ebenfalls nach Madrid wollten. Sie standen vereinzelt in der Kälte, die Schultern hochzogen, die Jacken zugeknöpft bis oben.

Ich musste an die Jahre denken, in denen ich immer wieder zu einer Gruppentherapie ins Voralpenland gefahren war, zwischen meinen 30ten und meinem 40ten Geburtstag. Für zwei Wochen lebte man auf engem Raum in einem alten Gasthaus zusammen. Wenn man vor die Tür trat, sah man die Berge in der Ferne, mit ihren strengen Kontrasten und der abrupten Art, den Lauf der Landschaft zu unterbrechen.

Wir waren in der Regel zehn Teilnehmer, meist mehr Frauen als Männer. Der Komfort entsprach dem einer Jugendherberge. Gemeinschaftsbäder- und Toiletten. Eine Küche, in der wir selber kochten. Ein Essraum. Der Seminarraum schliesslich, in dem wir den Grossteil des Tages verbrachten.

Die mittleren Alters überwogen, aber es gab immer wieder auch Zwanzigjährige. Ich erinnere mich an einen 80jährigen.

Die meisten waren Akademiker, angehende oder schon lange berufstätige, dazu immer wieder Krankenschwestern, Pfleger, Physiotherapeuten. Auffallend viele Ärzte.

All diesen Kursen war gemein, dass nach ein, spätestens zwei Tagen die Gesichter der Teilnehmer wie verjüngt aussahen - trotz mitunter rot geweinter Augen oder stoppeliger, weil inzwischen unrasierter Wangen. Es war, als hätten wir unsere Masken abgeworfen oder als hätten wir uns gehäutet. Falten hatten sich geglättet. Rücken sich gestreckt. Schritte waren energischer. Augen, vorher halb verborgen hinter schweren Lidern, schienen plötzlich doppelt so groß.

Was war geschehen?

Natürlich hatten die Übungen ihren An­teil daran.

Ebenso wichtig aber waren die Gesprächsrunden, die einmal am Tag stattfanden. Einen Zwang gab es dabei nicht. Wer stumm bleiben wollte, blieb es,

Doch das kam selten vor. Wir alle hatten viel Geld für den Kurs bezahlt und zum Teil lange Anfahrten in Kauf genommen. Wir wollten das meiste aus unserer Zeit hier machen.

Das meiste machte man dann daraus, wenn man zum Beispiel in der täglichen Runde möglichst offen war. Der Therapeut stellte kurze Fragen, manchmal streute auch jemand der anderen Beobachtungen oder Bemerkungen ein, aber in der Regel hatte man die Aufmerk­samkeit ganz für sich alleine - eine Minute oder auch eine Stunde, wie es eben notwendig war.

Natürlich war es schwierig, sich vor so vielen fremden Menschen zu öffnen. Einerseits trat aber nach einigen Tagen ein Gewöhnungseffekt ein - die Fremden wurden weniger fremd. Und andererseits: Alle machten es ja. Alle legten sich ja offen. Man begriff sehr schnell: Den anderen geht es auch nicht besser als einem selber. Wir sitzen alle im selben Boot.

Das hatte etwas Erleichterndes. Und das hatte auch etwas Ernüchterndes.

Ernüchternd, weil es einem die Einzigartigkeit nahm. So sehr wir alle unter unseren Depressionen, beruflichen Misserfolgen, unseren Süchten und Selbst­mordfantasien, unseren gescheiterten Liebesbeziehungen, unseren Ängsten und Zwangsvorstellungen leiden - wir bilden uns alle gerne ein, dass sie uns zugleich einzigartig machen.

Nur wir leiden auf diese ganz besondere und ganz be­sonders schmerzhafte Weise.

Zu erfahren, dass dem nicht so ist, sondern dass - ganz im Gegenteil - unsere seelischen Verwerfungen etwas recht Gewöhnliches, im ursprünglichen Sinne Ordinäres haben, holt uns wieder auf den Erdboden zurück. Wir sind eben nicht die Hauptdarsteller in einer welthistorischen Tragödie, wie wir uns selber gerne glauben machen. Sondern wir sind bestenfalls Statisten. Einer von Millionen, von Milliarden sogar.

Erleichterung aber empfinden wir auch deshalb, weil wir uns - trotz unserer einge­bildeten Einzigartigkeit - in Vielem für unser selber schämen. Wir alle wollen makellos sein, doch in Wahrheit sind wir voller Beulen, Schrammen, dunkler Flecken, dunkler Zonen. Zumindest empfinden wir uns selber so. Sich vor anderen dazu zu bekennen, zu dem mangelhaften Selbst, das man in den eigenen Augen ist, hat etwas Befreiendes, etwas Erleichterndes. Und diese Erleichterung sieht man den Teilnehmern an - ihren Gesichtern, ihren Körpern. Man hört es an ihren Stimmen.

2.

Man sagt, das Haus der Künste hat viele Räume. Damit will man sagen: Was der einen missfällt, gefällt dem anderen vielleicht umso besser. Platz ist für uns alle da.

Mein Zimmer dort ist ausstaffiert mit Büchern von Hermann Hesse, Ernst Jünger, Georg Büchner, Julien Green und Thomas Mann dazu von Goethe, Bobrowski, Brecht, Ingeborg Bachmann, Droste Hülshoff - Autoren und Autorinnen, die mir in unterschiedlichen Phasen meines Lebens viel bedeutet haben.

Der stärkste Text, den ich in den vergangen Jahren gelesen habe, stammt von Wolfgang Herrndorf. Er heisst "Arbeit und Struktur" und dokumentiert in Tagebuchform die letzten Monate des Schriftstellers, der sich schliesslich, nach langem Kampf gegen einen Gehirntumor, das Leben genommen hat.

So deprimierend dieses Tagebuch natürlich ist, so er­mutigend, ja, kraftspendend ist es auch. In der rückhaltlosen Ehrlichkeit, mit der Herrndorf seine hoffnungs­lose Lage beschreibt, liegt eine Größe, die das Schreckliche er­träglich macht. Wenn uns nichts bleibt, so bleibt uns doch am Ende die Würde, dieses Nichts mit klaren Worten zu be­nennen.

3.

Seitdem ich mit fünf oder sechs die Comics meines älteren Bruders flüsternd entziffert habe, bin ich ein Lesender; will sagen, dass Bücher, Texte eine zentrale Rolle in meinem Leben spielen. Der Geschmack hat sich natürlich im Lauf der Jahre verändert, und damit meine ich nicht, dass ich keine Comics mehr mag. Sondern damit meine ich vor allem, dass ich heute nicht mehr lese, um von der Welt weggeführt zu werden - sondern ich lese, um zu ihr hingeführt zu werden. Wenn ich mich ablenken will, schaue ich Filme oder Serien.

4.

Das Wort, das ins Mark trifft. Der Satz, der den Schleier wegreisst. Die Sprache, die befreit.