Vorhin war wieder alles da - unvermittelt, vollkommen überraschend. Innerlich war ich ganz woanders gewesen, beim Schreiben meines jetzigen Buches. Doch jetzt war ich wieder auf dem Dach oben, das israelische Mädchen neben mir, drumerhum die nächtliche Stadt: Hochsommer in New York, Hundstage.

Wir hatten aus meiner Wohnung, die im Stockwerk drunter lag, eine Matratze hochgeschleppt, damit wir nicht auf der dreckigen Dachpappe liegen mussten.

Es ist ja so: Deine Einsamkeit spürst du mitunter dann am stärksten, wenn du sie eigentlich gar nicht spüren solltest. Auf einer Party, zum Beispiel. Oder eben, wenn du aus nächster Nähe in das Gesicht eines anderen Menschen schaust, eure Körper nackt und schwitzend aneinander.

Sicher hatte das auch mit dem vielen Kiffen zu tun und mit der allnächtlichen Schlaflosigkeit. Auch mit dem furchtbaren Versagen auf der Schauspielschule, jenen Wochenend-Kursen, die mir meine Unbegabtheit, meine vollkommene Ungeeignetheit für den Beruf vor Augen führten.

Aber darunter war noch etwas anderes, eine Art Raunen, das im Lauf der Jahre stetig eindringlicher geworden war, eine Konsequenz nämlich meiner ganz spezifischen Persönlichkeit, ein Urteil, das schon sehr früh über mich gesprochen worden war und dessen Richtigkeit ich nicht mehr leugnen konnte: Etwas an mir war grundlegend falsch, passte nicht, stand quer zur Welt.

Ein paar Nächte später rannte ich - getrieben von einer namenlosen Angst - durch die Strassen. An den roten Ampeln sprang ich auf der Stelle hoch und nieder. Ich war mir sicher: Wenn ich stehen bleibe, ist es um mich geschehen.

Drogeninduzierte Dissoziation, würde ich heute sagen.

Mein Glück war, dass mich eine Freundin sah und zu sich nahm. Eine Französin, etwas älter als ich, die sich viel auf ihre Lebensklugheit zugute hielt. Sie erklärte mir in jener Nacht genau, wie man es als Frau anstellen müsse, die amerikanischen Einwanderungsbehörden zu überlisten:

"Heiraten langt nicht mehr. Die wissen auch, dass die East Village voller Schwuler ist, die mit dir für 1000 Dollar zum Standesamt gehen. Auf die Details kommt es an, sie fragen dich nach den Details. Daran scheitern dann viele. Zum Beispiel: Wie sieht die Zahnbürste deines Ehemannes aus. Im Zimmer nebenan hockt dein "Ehemann", und den fragen sie das Gleiche. Und schon haben sie dich."

Mit derlei ablenkendem Gerede brachte sie mich durch die Nacht. Jenem Sommer hatte ich es übrigens zu verdanken, dass ich später nicht zur Bundeswehr musste. Ich musste mir nicht - wie andere - erst zusammenlesen, wie sich ein paranoider Wahn anfühlt. Ich konnte aus eigener Erfahrung schöpfen.

Und das israelische Mädchen? Sie war, bevor sie nach New York kam, aktive Soldatin gewesen. Als wir zusammen "Apocalpyse Now" sahen, stand sie bei einer Kampf-Szene plötzlich auf und rannte aus dem Kino: zu nah an dem, was sie ein Jahr zuvor tatsächlich erlebt hatte. Wir standen auf der Strasse, rauchten eine Zigarette. Ein paar Male trafen wir uns noch, dann lernte ich meine erste Frau kennen, und wir sahen uns nicht wieder.

Und noch etwas: Meine Erfahrung ist, dass solche Zustände unmöglich anderen Menschen zu vermitteln sind, die dergleichen selber noch nicht erlebt haben. Die Angst vor dem Verrücktwerden ist zugleich das Verrücktwerden - wie soll man das mit Worten begreiflich machen?